Zitat»Depressionen nehmen zu« Ökonomischer Druck führt bei vielen Menschen zur Überlastung. Ein Gespräch mit Michael Wilk Interview: Gitta Düperthal
Merken Sie bei Ihrer täglichen Arbeit, daß die Wirtschaftskrise bei den Kranken angekommen ist?
Ich registriere einen zunehmenden psychischen Druck bei vielen Menschen – und eine wachsende Hemmungen, sich arbeitsunfähig schreiben zu lassen. Viele fürchten Repressalien, wenn sie krank werden, oder sinkende Chancen auf dem Arbeitsmarkt – vor allem wenn sie älter als Mitte 40 sind. Statistisch gibt es zwar 2008 wieder mehr Krankmeldungen, nachdem 2007 der Krankenstand das Rekordtief von 3,2 Prozent der Sollarbeitszeit erreicht hatte. Das verwundert nicht: Krankheiten lassen sich nicht verschleppen oder verdrängen; das »Rollback« kommt heftig. Die momentane Krise ist noch nicht statistisch erfaßt –in späteren Statistiken wird vermutlich eine Zunahme psychosomatischer Krankheiten erkennbar werden. Aus subjektiver Sicht kann ich nur konstatieren: Depressionen als Folge des ökonomischen Drucks nehmen zu.
Wie macht sich das bemerkbar?
Eine Amerikanisierung der ökonomischen Verhältnisse macht sich breit: Viele können sich nur noch mit zwei Jobs über Wasser halten, teilweise mit einer 60-Stundenwoche. Das führt zur Überlastung: Burnout oder Depression als Antwort auf Mangel an Zeit zur Regeneration, für die Familie und private Interessen. Neu ist, daß die gesellschaftliche Mittelschicht vom Druck erfaßt ist. Durch die Bankenkrise haben kleine Unternehmer und Handwerker einen Großteil ihres Vermögens verloren.
Ärzte, die ein offenes Ohr und Zeit haben, um diese Probleme der Patienten überhaupt wahrzunehmen, sind rar geworden. Woran liegt das?
Ohne mich in das Jammern von Ärzten einreihen zu wollen: Fakt ist, daß die Krankenkassen nicht belohnen, wenn Ärzte sich dem Patienten zuwenden. Deshalb versuchen einige, mit Masse und kurzgetakteten Terminen zu kompensieren. Das ist an Ärzten zu kritisieren – vor allem aber ein Systemfehler: Gerätemedizin wird hingegen überdimensional gut bezahlt. Es geht nur nach Kosteneffizienz und Gewinndenken, der Mensch interessiert kaum. Privatkassen und Krankenkassen in der jetzigen Form mit der Unterschiedlichkeit der Entlohnung sind meiner Meinung nach aufzulösen. Sonst kommen wir dahin, daß Ärzte gesetzlich Versicherten irgendeinen Humbug anbieten, der privat zu bezahlen ist, nur um Geld zu verdienen. Zudem ist das System intransparent. Alle Beteiligten sollten wissen, was eine Leistung bringt und was sie kostet – auch der Patient.
Gibt es angesichts des zunehmend von unternehmerischem Gewinndenken dominierten Gesundheitssystems Gegenwehr von Patienten?
Das ist ja das schlimme: In Deutschland gibt es keine breite Bewegung selbstorganisierter Patienten und Patientinnen, die das Gesundheitssystem hinterfragen – obgleich das bitter notwendig wäre. Wenn du dich gegen Atomkraft engagierst, wartest du ja auch nicht, bis Gorleben atomverseucht ist. Dabei offenbart sich die negative Rolle von Gewerkschaften, die im Grunde immer nur Kompromisse von Lohnanpassung und Stillhalteabkommen erzielen. Im Gesundheitsbereich existiert nicht einmal eine Lobby im etablierten System. Ein sozialkritischer Ansatz, der dazu führt, daß Leute sich organisieren und über den Tellerrand hinaus das Gesellschaftssystem kritisch beleuchten, fehlt. Das Bismarcksche Versorgungssystem hält bequem mit jener »Ich-werde-versorgt-Mentalität«. Sicherheitssysteme werden permanent heruntergefahren, der Sozialstaat wird ausgedünnt – aber die Leute haben nicht gelernt, sich um sich selber zu kümmern. Da müssen wir gegensteuern. Patienten müssen emanzipativ ihre Belange in die Hand nehmen.
Michael Wilk ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut