Vortrag: Was ist der Mensch (Größtenteils aus "Die vier Gefängnisse des Menschen" von Dr. Schariati)[/size] [size=85]Fatima J. A3udhu billahi minal shaytanir rajim
Jeder von uns hat eine bestimmte Absicht, wenn er sich einen Vortrag anhört. Und auch jeder Vortragende hat eine bestimmte Absicht, wenn er seinen Vortrag aufsagt. Der Vortragende möchte seinen Zuhören seine Gedanken oder eine Idee vermitteln, um sein Wissen mit ihnen zu teilen. Und die Zuhörer wollen sich mehr Wissen aneignen. Aber was ist eigentlich „Wissen“?
Einmal kam ein Mann zu unserem Propheten (s.a.s.) und stellte ihn genau diese Frage: „Oh gesandter Gottes, was ist Wissen?“ unser Prophet antwortete sinngemäß: „Wissen ist Ruhe, dann ist Wissen Zuhören, dann ist Wissen Merken, dann sollte man das gemerkte Wissen in Handeln umsetzen, um es dann mit anderen zu teilen.“
Daraus können wir sehen, dass unser Wissen unvollständig bleibt, wenn wir nicht danach handeln. Doch umgekehrt ist es noch schlimmer, wenn wir handeln ohne zu wissen. Denn ohne Wissen können wir nicht richtig handeln, deshalb sollten wir nach Wissen streben, um es in wahres Handeln umzusetzen. Wie Imam Ali (a.s) sagte, ist Wissen eine Leuchte für den Verstand. Es erleuchtet unseren Verstand, sodass wir sehen können, wie wir richtig handeln.
Seit dem es den Menschen gibt, kann er seinen Verstand einsetzen und denken. Aber warum denkt der Mensch? Der Mensch denkt, um die Welt besser zu verstehen und seine Probleme zu lösen. Doch konnte er sein größtes Problem nicht lösen. Das größte Problem des Menschen ist der Mensch selbst, das heißt unser größtes Problem sind wir selbst. Die Wissenschaftler haben schon vieles auf der Erde entdeckt können; dass die Erde rund ist, dass die Erde sich um die Sonne dreht, dass der Mond sich um die Erde dreht etc. Damit konnten sie sich viele Sachen auf der Erde erklären und den Lauf der Welt besser verstehen. Doch bis heute kommen sie nicht hinter die Antwort auf die entscheidende und wichtigste Frage:
Was ist der Mensch? Solange wir nicht verstehen, was der Mensch ist und wie er sein soll, ist alles, was wir auf der Erde erzielen, sinnlos. Es ist so, als wäre man ein Gärtner, der über alle Techniken der Gärtnerei Bescheid weiß. Doch er setzt diese Techniken nicht praktisch um. Was bringt ihm dann sein Wissen? Oder es ist so, als würden wir alle Buchstaben des Alphabetes beherrschen, sie jedoch nicht zum Schreiben anwenden. Es ist wieder sinnlos, dass wir die Buchstaben kennen. Deshalb sollten wir wissen, wie der Mensch ist und wie er sein soll, damit wir unsere Eigenschaften erkennen, sie richtig anwenden und Mensch werden.
Mit „Mensch“ meine ich nicht die Menschengestalt. Im Koran gibt es zwei Wörter für Mensch; Einmal Baschar(Menschengestalt) und einmal Insan(Menschsein; also das, was den Menschen ausmacht). Wir müssen lernen ein Insan zu sein und kein Baschar. Das Verhalten einer Ameise wäre zum Beispiel das Verhalten eines Baschar. Eine Ameise kann sehr raffinierte Nester bauen. Das Negative aber ist, dass sie diese Nester schon immer gebaut hat. Sie baut sie jetzt noch und wird sie auch immer bauen. Sie ist ein „Sein“, sie entwickelt sich nicht. Wir aber müssen uns entwickeln, wir müssen werden. Damit sind nicht nur unsere Kleidung, Nahrung oder materielle Dinge gemeint. Sondern viel mehr! Wir sollten auch höhere und ideale Eigenschaften anstreben!
Jeder von uns kennt den Koranvers: Inna lillah, wa inna illaihi raji’un; Wir gehören Allah swt und zu ihm kehren wir heim(Sure al-Baqara, 2:156). Diesen Koranvers kann man auch aus einer anderen Perspektive interpretieren. Es heißt „zu Ihm kehren wir heim“ –Wer ist Ihm? Natürlich Allah swt. Allah swt ist unendlich und absolut, er ist überall und hat keinen bestimmten Platz. Also wohin kehren wir heim? Und dennoch heißt es, „wie kehren zu Ihm heim“, das heißt wir bewegen uns zu Allah swt. Unsere Bewegung ist also unendlich, weil Allah swt unendlich ist. Wir sind ständig in Bewegung, ständig im Entwicklungsprozess zur unendlichen Erhabenheit. Und das ist die wahre Bedeutung des Werdens.
Nun ist uns klar, dass wir werden müssen, um Mensch zu sein. Aber wie sollen wir uns zu einem Menschen entwickeln, wenn wir nicht wissen, wie der wahre Mensch ist? Welche Eigenschaften sollen wir anstreben, um Mensch zu sein?
Dazu hilft uns Doktor Ali Schariati in seinem Buch „Die vier Gefängnisse des Menschen“. Er sagt, der werdende Mensch muss drei Eigenschaften besitzen, um die Hindernisse auf dieser Erde zu überwinden, die uns daran hindern Mensch zu sein. Er muss selbstwählend ,bewusst und schöpferisch sein.
Was bedeutet selbstwählend? Die Tiere sind zum Beispiel nicht selbstwählend. Eine Katze kann nicht sagen: „Heute möchte ich kein Fisch essen, heute esse ich Gras.“ Sie ist von Natur aus ein Fleischfresser. Sie kann es sich nicht aussuchen. Der werdende Mensch aber kann sich auflehnen, er kann sich gegen seine Bedürfnisse entscheiden. Eine Katze isst, wenn sie Hunger hat. Der werdende Mensch aber kann trotz seines Hungers, sich dagegen entscheiden zu essen. Er ist selbstwählend.
Der Mensch unterscheidet sich von allem Seienden in der Natur. Bei Tieren kann man, bevor sie geboren werden, sagen, welche Eigenschaften sie besitzen werden. Bevor sie da sind; bevor sie ein Dasein haben, kann man sagen, sie werden so, so und so sein. Das Sosein ist vor dem Dasein.
Bei Menschen ist es anders; wir sind schon da, wir existieren schon. Bei uns gibt es aber kein Sosein, sondern ein Sowerden. Beim Menschen sind bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten vorgegeben. Einige sind nicht änderbar wie das Atmen, der Herzschlag oder das Erneuern der Körperzelle. Andere sind als Basisform vorgegeben und werden durch das Streben und Bemühen des Einzelnen ausgeformt, negativ oder positiv. Das Sowerden ist also davon abhängig, was wir aus uns machen, wohin wir uns entwickeln und wohin wir werden.
Nun sagt Doktor Schariati auch, dass der werdende Mensch bewusst sein soll. Uns muss bewusst sein, dass es uns gibt, dass wir existieren. Uns musst bewusst sein, dass es ein Morgen gegeben hat und dass es ein Jetzt gibt. Wir dürfen an unserem Selbst nicht zweifeln.
Es stellt sich nur noch die Frage, was es bedeutet, schöpferisch zu sein. Der Mensch ist das einzige Lebewesen auf der Erde, das mit der Natur nicht zufrieden ist. Der Mensch gibt sich nicht mit dem zufrieden, was die Natur ihm zu Verfügung stellt. Ein Beispiel dazu: Die Natur gibt uns rohe Kartoffeln mit Schale, wir aber müssen sie schälen, schneiden, frittieren und verarbeiten sie zu Pommes. Oder die Natur gewährt uns nicht zu fliegen, wir aber lehnen uns dagegen auf und schöpfen ein Flugzeug. Daraus können wir sehen, dass die Bedürfnisse des Menschen sich dermaßen entwickelt haben, dass er Dinge verlangt, die nicht in der Natur vorhanden sind. Und der Mensch ist wohl fähig zu schöpfen, um diese Bedürfnisse zu stillen.
Das sind die drei Eigenschaften, die ein werdender Mensch benötigt, um die Hindernisse auf dem Weg zum wahren Menschen zu überwinden.
Einige Hindernisse hat der Mensch durch die Wissenschaft erst erkannt, und war sich dann bewusst, diese überwinden zu können. Bevor wir Hindernisse überwinden können, müssen wir sie also erst erkennen und dann müssen wir die richtigen Mittel finden, um diese zu beseitigen.
Ein Beispiel für ein Hindernis ist die Natur. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir nicht von der Natur erschaffen worden sind. Nein, sondern Allah swt ist unser Schöpfer und die Natur wurde für uns erschaffen. Deshalb darf sie keine Grenze für unsere Entwicklung sein. Ein Beispiel dazu kann wieder das Fliegen sein. Die Natur hat uns nicht gewährt zu fliegen, wir aber haben uns dagegen aufgelehnt und durch die Wissenschaft haben wir ein Flugzeug gebaut; Durch die Wissenschaft.
Ein anderes Beispiel für ein Hindernis oder ein Zwang ist die Gesellschaft. Die Umgebung und die Gesellschaft können den Menschen beeinflussen und ihn daran hindern, selbstwählend zu sein. Der Mensch ist, seit dem er existiert, ein vernunftbegabtes Wesen. Er müsste doch durch seine Vernunft erkennen, was falsch und was richtig ist. Er dürfte sich doch nicht so leicht von den Medien beeinflussen lassen! Was ist also die Schwierigkeit sich aus diesem Zwang zu befreien? Der Mensch, und damit ist nicht der wahre Mensch gemeint, ist faul und feige. Er macht es sich bequem und folgt blind den Medien, weil er selbst nicht betroffen ist. Er denkt sich, „warum soll ich mir die Mühe machen selbst zu denken, wenn andere für mich denken können.“ Der werdende Mensch muss lernen, seinen eigenen Verstand einzusetzen und selbst zu denken. Dazu benötigt er Freiheit. Der Mensch sollte sich aus den Ketten der Gesellschaft befreien und seine eigene Denkweise entwickeln. Wir sollten uns nicht von der Umwelt prägen lassen, sondern wir sollten die Umwelt prägen und die Menschheit auffordern, selbst zu denken. Aus dem Zwang der Gesellschaft können wir uns nur mit unserem eigenen Verstand also mit Logik befreien.
Aus diesen Zwängen helfen uns also die Logik und die Wissenschaft. Doch können sie nicht das größte Problem des Menschen lösen: das Gefängnis des eigenen Ichs.
Alles, was wir auf dieser Erde erzielen, ist sinnlos, wenn wir in unserem eigenen Ich gefangen bleiben, auch wenn wir uns aus allen anderen Gefängnissen befreit hätten. Warum können wir uns nicht aus diesem Gefängnis befreien? Weil es nicht so einfach ist. Bei den anderen Hindernissen wussten wir, nachdem wir sie erkannt hatten, wie wir sie erzwingen können. Der werdende Mensch wusste, wo er gefangen gehalten wurde. Er hat durch die Logik den Grund erfasst. Zum Beispiel wusste er, dass die Anziehungskraft der Grund dafür ist, warum er nicht fliegen kann. Auch bei allen anderen Zwängen erkannte er die Gründe.
Aber das Gefängnis des eigenen Ichs hat keine Mauern, die man einfach zerstören kann. Das Gefängnis tragen wir in uns. Deshalb ist es nicht leicht es zu erkennen. Der Gefangene und das Gefängnis sind identisch. Der Kranke ist nicht von der Krankheit zu trennen. Deshalb ist es schwer die Krankheit zu heilen. Also liegt die Schwierigkeit darin, dass dieser Zwang nicht durch die Wissenschaft zu lösen ist. Der Wissenschaftler ist nicht mehr der Betrachter von außen, er trägt das Gefängnis in sich. Dieses Gefängnis ist ein Bestandteil unseres selbst.
Können wir uns gegen uns selbst auflehnen? Wie können wir gegen dieses Gefängnis ankämpfen?
Die Ziele eines Menschen werden dann sinnlos, wenn man sie erreicht hat und nichts damit anfangen kann. Zum Beispiel nehmen wir uns vor Abitur zu machen. Wir kämpfen und lernen bis wir unser Ziel erreicht haben. Und dann? Wir sind am Ende unseres Weges angelangt, wir haben unser Ziel erreicht. Die Entwicklung des Menschen darf aber kein Ende haben. Wir sollten uns ein Ziel setzen, dass kein Ende hat, damit unsere Handlungen sinnvoll sind. Wir sollten uns also zum Beispiel vornehmen Abitur zu machen, Architektin zu werden und in allen Ländern dieser Welt Moscheen zu bauen. So können wir unser Ziel nicht erreichen, aber wir bleiben nie stehen.
Die Ideale des Menschen müssen also so hoch gesteckt sein, dass er nie stehen bleibt. Sie müssen unendlich sein. Und was auf dieser Welt ist unendlich? Was auf dieser Welt ist nicht vergänglich? Nichts. Außer Allah swt.
Bei den anderen Zwängen haben die Wissenschaft und die Logik uns geholfen, uns davon zu befreien. Hier haben wir aber keine Wissenschaft und keine Logik. Die Zwänge kamen von außen und die Lösungen fanden wir auch außerhalb unseres Selbst. Nun aber kommt der Zwang von innen, also müssen wir ihn von innen bekämpfen. Das, was uns aus diesem inneren Zwang befreit, ist die von innen kommende, vom Herzen kommende, wahre Liebe. Die Liebe zu Allah swt.
Viele fragen sich, wozu der Mensch die Religion braucht. Der Mensch braucht die Religion, um sich aus diesem letzen Zwang zu befreien. Er braucht die Liebe zu Gott, um sich selbst zu finden und um sein Leben auf dieser Erde einen Sinn zu geben. Konkret ist das Gefängnis des eigenen Ichs die Eigenliebe. Wir müssen die Eigenliebe mit der Liebe zu Allah swt übertreffen und überwiegen.
Was ist die Liebe zu Allah swt?
Jeder von uns kennt die goldene Regel, die lautet: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füge keinem anderen zu.“ Das ist keine wahre Liebe. Das heißt soviel wie, ich lüge nicht, damit du mich nicht belügst. Ich liebe dich, damit du mich liebst. Ich gebe dir, damit du mir gibst. Das ist wieder Logik aber keine Liebe.
Wahre Liebe bedeutet, die Bereitschaft alles für Allah swt zu geben und nichts dafür zu erwarten. Wenn ich also nicht lüge, und den Ärger oder andere Folgen auf mich nehme, ohne irgendeine Belohnung zu erwarten; wenn ich gebe, zum Wohle des anderen ohne dabei auf mein eigens Wohl oder auf Verluste achte, dann habe ich mich selbst gefunden.
Es gibt ein Hadith der lautet: Es gibt drei verschiedene Arten von Anbetung 1. Die Anbetung aus Furcht. Das ist die Anbetung der Sklaven. 2. Die Anbetung aus Verlangen. Das ist die Anbetung der Händler und 3. Die Anbetung aus Liebe. Das ist die Anbetung der freien Menschen!
Das sind die freien und wahren Menschen. Das ist das wahre Ich, das tief in uns verborgen ist. Und wenn wir dieses wahre Ich gefunden haben, können wir zu Allah swt heimkehren und uns zu ihm bewegen mit Liebe, Glaube und Religion.
MashaAllah, ein sehr lehrreicher Vortrag. Wenn wir diese Worte verinnerlichen können und einen starken Willen haben und uns anstrengen, dann steht uns inshaAllah nichts im Wege auf der Reise zur Nähe Allahs swt.