Inzwischen erhalte ich fast tagtäglich den Vorschlag, dass Muslime in Deutschland eine Partei gründen sollten. Einige, die diesen Vorschlag sehr intensiv verfolgen, möchten auch das Team des Muslim-Markt dazu gewinnen. Warum aber glauben wir, dass die Zeit noch nicht reif dafür ist?
Die aktuelle politische Landschaft in Deutschland gibt deutschen Muslimen nur eine unzureichende Gelegenheit, sich aktiv einzubringen. Das stetig wachsende konstruktive Potential wird nur recht unbefriedigend von den bestehenden Parteien aufgenommen. Zwar haben die Grünen als Erste eine Plattform für Muslime gegründet, aber deren Mitglieder haben mehr mit unislamischen Äußerungen (Stichwort Kopftuch) und politischen Heucheleien der eigenen Partei zu tun (Stichwort Afghanistan) als sich konstruktiv einzubringen. Viele ehemalige SPD-Muslime sind bei der letzten Wahl zu der Linken gewechselt, aber in beiden Parteien wird man das familienpolitische Profil der Muslime nicht akzeptieren. In der FDP auf Bundesebene und den Parteien mit dem “C“ auf allen Ebenen wird man ohnehin keine praktizierenden Muslime finden.
Die parteiübergreifende Feindseligkeit gegen den Islam und die Muslime im Land (Sarrazin ist SPD-Mitglied) führt dazu, dass Muslime sich zwar in Teilaspekten in den Parteien engagieren können, aber nie eine wirkliche politische Heimat im Land finden. Zwar würden sich Muslime erheblich mehr für soziale Gerechtigkeit einsetzen wollen (also “links“ nach dem Schubladendenken), aber gleichzeitig auch für eine intensivere Familienpolitik (also rechts). Muslime würden für eine größere Unabhängigkeit Deutschlands eintreten, aber gleichzeitig gegen Rassismus. Die Aussage „Unterdrückt nicht und lasst Euch nicht unterrücken“ müssten zum Leuchtturm eines jeden politischen Ressorts werden. So hegen Muslime Sympathien für den Schuhwerfer bei einer Pressekonferenz im Irak genau so wie für den “verbalen“ Schuhwerfer in der Bundespressekonferenz, der die Bundeskanzlerin in Verlegenheit wegen der Besetzung des Finanzministeriums gebracht hat und wohl nie wieder in den Saal darf. Stets auf der Seite der Unterprivilegierten zu stehen und nie auf der Seite der “Reichen“, wäre ebenfalls ein muslimisches Konzept, das aber dennoch nicht “kommunistisch“ wäre, da die Belohnung für höhere Leistung nicht abgelehnt wird, so lange sie auf wahrhaftigen Wegen erfolgt (z.B. ohne Zinsen). Und jene Muslime haben eine sehr wichtige religiöse Pflicht bei allem politischen Engagement: Sie dürften niemals lügen!
Die oben genannten Teilaspekte einer islamischen Politik veranlassen nicht nur Muslime über die Idee einer muslimischen Partei nachzudenken, auch eine ganze Reihe von Nichtmuslimen signalisiert ihre Unterstützung für solch ein Konzept. Ein nichtmuslimischer Akademiker hat uns sogar auch einmal die ausgearbeitet Grundlage für eine mögliche Parteisatzung zukommen lassen. Eine Web-Domain hätten wir auch schon http://www.irab.de und einen dazu passenden Namen haben auch schon einige kreiert: Islamisch-Republikanischer Anstrengungs-Bund. Mag etwas ungehobelt klingen, aber es war ja auch nur ein Vorschlag.
Doch was ist von solch einer Herangehensweise zu halten? Die folgenden Zeilen spiegeln lediglich die Gedanken wieder, die in Diskussionen im Muslim-Markt-Team entstanden sind. Sie sind weder stellvertretend für alle praktizierenden Muslime in Deutschland noch für irgendeine Gruppe noch für die Leserschaft des Muslim-Markt. Dennoch können Sie Inschaallah hilfreich sein, eine breitere Diskussion anzuregen, damit eines Tages – wann auch immer – Muslime sich aktiver als bisher in die deutsche Politik einbringen können.
Wir glauben, dass die Zeit aus gleich mehrerlei Hinsicht nicht reif ist für eine muslimische Partei. Die Gründe hierfür liegen bei den Muslimen wie der Gesellschaft gleichermaßen.
Zunächst einmal werfen wir einen Blick auf die Lage der deutschen Muslime (denn nur sie haben ein aktives und passives Wahlrecht auf überkommunaler Ebene). Es gibt zum einen die Vorstellung, dass man eine Moschee bauen müsste, damit sich die Gemeinde darin versammelt und zum anderen die Vorstellung, dass erst die Gemeinde entstehen müsste und die Moschee dann die unaufhaltsame Konsequenz der Entwicklung ist. Wir vertreten die zweitgenannte Position!
Was für die Moschee gilt, gilt auch für die Partei. Eine politische Partei erfüllt keinen Selbstzweck: Sie muss zum Ziel haben, im Rahmen der Organisation besser den Menschen dienen zu können, als zuvor ohne jene Organisation. Das aber setzt voraus, dass es bereits einen Dienst am Menschen gibt. Wenn es hinreichend Muslime gibt, die sich gesellschaftlich engagieren, die sich einbringen in die Entwicklung ihrer Familie, ihrer Nachbarschaft, ihrer Kommune usw., und wenn diese Muslime das auch in deutscher Sprache tun (!!!), dann werden sie sich früher oder später ohnehin zusammenschließen, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Aber die Vorstellung, dass Aktivitäten dadurch entstehen können, dass man zunächst eine Organisation aufbaut, ist das altmuslimische Denken vom Mief einer 1400 Jahre alten Geschichte von Gewaltherrschern, die den Islam pervertiert haben! Die Tatsache, dass sie zuweilen dennoch menschlicher waren, als die konkurrierenden Systeme in der Welt lag nicht an ihnen, sondern daran, dass die konkurrierenden Systeme noch unmenschlicher waren. Mit Islam hatten aber jene Herrschaftspaläste “von oben“ nichts zu tun! Sind wir Muslime schon reif uns sowohl innerlich als auch methodisch von dieser falschen Von-Oben-Mentalität zu lösen? Haben wir hinreichend Aktivitäten die kleinen Möchtegernpaschas und unverschämten jungen Männer auf Kölns und Berlins Straßen in ihre Schranken zu weisen, da sie tagtäglich im missbrauchten Namen des Islam Fäkalausdrücke von sich geben?
Eine Partei bedarf eines gewissen breit gestreuten intellektuellen Potentials, um die vielen Angriffe auf die Partei (und die Ideologie dahinter) genau so abwehren zu können wie die eingeschleusten V-Männer, die fanatisieren wollen. Ist das Potential noch nicht vorhanden, muss es zunächst entwickelt und gebündelt werden. Schauen wir z.B. auf den jüngsten Angriff der Seyran Ates auf den Islam, wobei sie medienträchtig verlangt, der Islam bedürfte einer sexuellen Revolution. Wie viele deutschsprachige muslimische Intellektuelle in Deutschland gibt es, die ihr sachlich und in einer für Deutsche verständlichen offenen und dennoch islamisch gebotenen Sprache antworten könnten? Im Islam gibt es seit immerhin 1400 Jahren das Recht der Frau auf einen Orgasmus. In jedem religiösen Katechismus seit 1400 Jahren (Ilmihal bei Sunniten genannt, Risala bei Schiiten) ist der “Erguss“ der Frau beschrieben, eine Tatsache, über die man bis heute in der westlichen Welt noch zweifelt. Jeder praktizierende Muslim, sei es Mann oder Frau, der sich mit dem Islam etwas intensiver beschäftigt, muss sich auch mit den verschiedenen Arten der Menstruation, die eine Frau haben kann, beschäftigen, weil es mit den Reinheitsgeboten des Islam zusammenhängt. Und auf dieser Basis könnte man z.B. einer Frau Ates solch eine Entgegnung geben, dass sie dann wüsste, dass nicht der Islam eine sexuelle Revolution bedarf, sondern sie einer Aufklärung. Gäbe es hinreichend deutschsprachige Muslime in Deutschland die dazu befähigt wären, dann würden solche unsinnigen Bücher gar keine Abnehmerschaft finden! Aber wie viele gibt es unter uns Muslimen, die dazu in der Lage sind? Was nützt ein Kommentar eines türkischen Hodschas in dem türkischen Ableger der Bild-Zeitung? Und das Thema Sexualität ist im Vergleich zum Thema Wirtschaft vergleichsweise einfach! Wie viele deutsche Muslime könnten sich zu Themen wie Privatisierung und Verstaatlichung aus muslimischer Sicht kompetent äußern (selbst wenn es im Detail Meinungsunterschiede gäbe)? Wer wäre in der Lage das Copyright aus Sicht des Islam zu betrachten oder Arbeitermitbestimmungsrechte? Islamic Banking und Halal-Speise sind zwar Modebegriffe, aber sie reichen nicht aus, um eine Alternative für ein komplexes Gebilde wie den Kapitalismus anzubieten.
Und wie ist es den mit einem Minimum an Einheit unter deutschen Muslimen bestellt? Wie einig sind sich zwei Moscheen in der gleichen Stadt, in der gleichen Straße, von der gleichen Rechtsschule? Wie sehr können sich die muslimischen Dachverbände substantiell einigen und sind “deutsch“ besetzt? Und wie ist es mit den deutschen muslimischen Medien? Gibt es nicht einige Bekannte darunter, die besonders damit hervortreten, auf Glaubensgeschwister einzuprügeln, die in Detailfragen anders denken? Überhaupt, wie ist es mit dem pluralistischen Denken?
Während die Hindernisse auf Seiten der deutschen Muslime eine Frage der Zeit sein dürften, und – so Gott will – mit der aktuell 20-jährigen Generation bereits in wenige Jahrzehnten überwunden werden könnten, sind die Hindernisse auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft (und damit der Wähler) weitaus komplexer.
Muslime dürfen niemals lügen oder “tricksen“. Wie soll das aber aussehen bei der aktuellen Situation. Stellen wir uns doch einmal die letzten Bundestagswahlen vor und eine fiktive muslimische Partei, die sich dem Wähler gestellt hätte. Sie hätte dem Wähler folgende Fakten nennen müssen: Deutschland ist definitiv pleite. Wir können aus dem Dilemma nur mit einer enormen gemeinsamen Kraftanstrengung und bei Überwindung des Kapitalismus herauskommen. Es wird entweder zu einem weiteren Raub an zukünftigen Generationen kommen (was wir als Muslime nicht dürfen), oder aber ein Jahrzehnt lang enorme Einschnitte geben, bis wir die Finanzlage gemeinsam konsolidiert haben. Alle werden mehr arbeiten müssen und alle werden weniger verdienen. Zwar werden wir die “Besserverdiener“ erheblich mehr belasten und niemand soll hungern (Bürgergeld), aber alle werden es zu spüren bekommen! Wer würde solch eine Partei wählen? Will der Wähler nicht hören, dass er mehr bekommen wird, selbst wenn er weiß, dass er belogen wird?
Wir können auch über Afghanistan sprechen. Aber was sollen wir dem Bundesbürger vermitteln? Wir können ihm vermitteln, dass der Einsatz in Afghanistan erfolgt, um Terrorismus vom deutschen Boden abzuwehren. Wenn wir die Soldaten dort lassen, dann droht der Terrorismus von einer Handvoll fanatisierter Muslime, die unsere Sicherheitsbehörden hinreichend in Schach halten können. Wenn wir sie abziehen, droht der Terrorismus der professionellen CIA als False-Flag-Angriffe, die unsere Sicherheitsbehörden nicht verhindern können, damit wir unsere Soldaten wieder dorthin schicken. Sind wir bereit, die Opfer eines solchen Angriffs zu ertragen? Hat die Bevölkerung diese Opferbereitschaft für die Freiheit? Oder zieht sie es vor, einige wenige Soldaten am Hindukusch zu opfern?
Wir könnten auch über die Medienlandschaft und die Machtverteilung in Deutschland reden, und dass z.B. ein Haus, wie der Springer-Konzern, eine Art verbalen Terrorismus für jede halbwegs vernünftige Gesellschaft darstellt und daher verboten werden müsste! Aber wird das Volk auf seine Bild-Zeitung verzichten wollen? Ist das Volk bereit, in Zukunft sich mehr für die hervorragenden Wissenschaftlerinnen des Landes zu interessieren, als für den Toilettengang von Paris Hilton? Zwar wird Letzteres immer für einen gewissen Teil der Bevölkerung gelten, aber jener Teil ist derzeit zu groß!
Deutsche Muslime sind (noch) nicht reif, und auch das Volk in Deutschland will derzeit keine solche “wahrhaftige“ Partei! Unser Vorschlag ist daher das arbeiten “von unten“. Auch wenn es mühselig ist, aber eine Generation muss die Keime pflanzen und pflegen, damit die nächste oder übernächste Generation die Früchte ernten kann. Anders geht es nicht! Es geht nur mit “Kleinarbeit“. Das Klotzen überlassen wir den Kapitalisten. Wir “kleckern“ lieber aber dafür mit stetem Tropfen. Die Selbsterziehung spielt die entscheidende Rolle! Daher plädieren wir dafür, diesen Bereich zu intensivieren.
Im Augenblick gibt es eine sehr hoffnungsvolle Generation von jungen Schwestern und Brüdern, die Abitur machen oder sogar schon nach der Ausbildung ihre ersten Gelder verdienen. Sie gründen gerade Familien. Sie sind gebildet und setzen sich aktiv für die Gesellschaft im Kleinen ein. Jene Generation wird in ca. 20 Jahren hinreichend Erfahrung gesammelt haben, um sich dann organisiert noch intensiver einbringen zu können. Wenn aber andere Muslime zu dem Schluss kommen, dass sie die Situation jetzt schon für reif erachten, dann werden sie ohnehin die entsprechenden Schritte von sich aus einleiten und unsere Gebete begleiten sie in jedem Fall!
die Geschwister vom Muslim-Markt haben meine Hochachtung! Eine sehr wichtige Klarstellung und ein Schlag ins Gesicht aller Muslime im deutschsprachigen Raum, der uns mal aufwecken sollte und vielen von uns endlich mal unsere eigene Realität - eine Realität der Missstände, Rivalitäten, Erfahrungs- und Bildungsdefizite vor Augen geführt hat.
Möge Allah uns Geduld, Kraft, Wissen und Erfahrung geben, sodass wir irgendwann mal in hoffentlich nicht allzuferner Zukunft diese Missstände in unseren eigen Reihen beseitigt haben, sodass wir uns dann ausschließlich um die Missstände in dieser Gesellschaft und in diesem Land kümmmern können, mit Seiner Hocherhabenen Erlaubnis.
es war sicherlich nicht die Absicht von Dr. Özoguz, seinen Geschwistern ins Gesicht zu schlagen, aber ich verstehe schon, was du meinst. Leider glauben viele Muslime, dass es so einfach ist, eine Partei will ja nicht nur gegründet, sondern auch ordentlich geführt werden. Und ehrlich, ich kenne kaum eine Moscheegemeinde, wo es nicht dauernd handfesten Krach und Geschacher um Posten und Pöstchen gibt. Wie soll das dann auf größerer Ebene laufen?