In Hebron – einer Stadt voller Hass – setzt sich Ilan Fathi für das Recht der Palästinenser ein Von Nissrine Messaoudi, Hebron
Hebron ist eine geschichtsträchtige Stadt. Sie war einst die heilige Stadt der Urväter Abraham, Isaac und Jacob. Heilig sowohl für Juden als auch für Muslime. Doch vom Glanz der Vergangenheit ist nicht viel übrig geblieben. Seit Jahren verübt Israel, in der größten Stadt der West Bank, an Palästinensern Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
»Hebron ist mit nichts zu vergleichen. Die meisten Israelis wissen nicht, was hier vor sich geht, und wollen es auch nicht wissen«, erklärt uns – einer von Medico International eingeladenen Journalistendelegation – Ilan Fathi von »Breaking the Silence«. Eine Partnerorganisation von Medico International, die von ehemaligen israelischen Soldaten gegründet worden ist. Sie wollen das Schweigen über Menschenrechtsverletzungen während ihres Militärdienstes brechen. Zuletzt machten sie mit den »Testemonies« – Berichten über den Gaza-Krieg (Dezember 2008 / Januar 2009) – auf sich aufmerksam, die belegen, dass die israelische Armee vorsätzlich gegen die Menschenrechte verstoßen hat.
»Ein guter Araber ist ein toter Araber«
Ilan Fathi war selbst Soldat. »Drei Jahre und fünf Monate«, sagt er und guckt zu Boden. Wie die meisten Israelis hat auch er sich auf den Militärdienst gefreut. »Ich komme aus einer rechten Familie. Ich wuchs damit auf, dass ein guter Araber ein toter Araber ist.« Auch in der Schule wurden weder Toleranz noch ein friedliches Miteinander gepredigt. »Die Karten in Geografie zeigten ausschließlich israelische Städte, ohne die Grenzen von 1967. Außerdem wurde uns beigebracht, dass die Palästinenser während des Unabhängigkeitskriegs 1948 freiwillig gegangen und nicht vertrieben worden sind«, sagt der 27-Jährige. Bis zu seinem Militärdienst habe er nicht einmal gewusst, was besetzte Gebiete eigentlich sind. Um so mehr sind wir von seiner Wandlung beeindruckt, die nur selten auf Gegenliebe stößt.
Normalerweise begleitet ein Sicherheitstrupp die Tour mit der Organisation, denn die Siedler in Hebron greifen die ehemaligen Soldaten sowie Besucher oft an. Abgeordnete aus dem Deutschen Bundestag wurden kürzlich mit gebrauchten Windeln und Steinen beworfen, als sie die gleiche Führung machten. Ein wenig besorgt über den fehlenden Schutz sind wir schon. Nichtsdestotrotz machen wir uns auf den Weg von Jerusalem nach Hebron. Wir fahren durch einen Tunnel. Eine Besonderheit, denn sonst müssen sich nur Palästinenser unterirdisch fortbewegen, während die breiten, gut gebauten Straßen für Israelis reserviert sind.
Wir halten in Qiryat Arba, in der Nähe von Hebron. 1970 hat das israelische Parlament, die Knesset, entschieden, hier eine Siedlung zu bauen. Eine saubere Gegend, Pflanzen blühen und umgeben die Hochhäuser der Siedler. Nachdem 1980 bei einem palästinensischen Anschlag im Zentrum Hebrons sieben Siedler getötet worden sind, stieg – als Antwort auf den Anschlag – die Siedlerzahl weiter an. Doch sie blieben nicht nur in Qiryat Arba, sondern zogen in die Altstadt und ins Handelszentrum von Hebron. Zum eigentlichen Wendepunkt in der Geschichte Hebrons kam es dann 1994, als der Kinderarzt und Siedler Baruch Goldstein während des Freitagsgebets die Ibrahimi-Moschee stürmte, dabei 29 Palästinenser umbrachte und 100 weitere verletzte, bevor er selbst erschossen wurde. Um die Siedler – ein paar Hundert – vor eventuellen Racheakten zu schützen, entschied sich die israelische Regierung für eine Separationspolitik mit »sterilen Zonen« (palästinenserfreie Gebiete), die nach der zweiten Intifada im Jahr 2000 immer schlimmer wurde.
In Qiryat Arba besuchen wir das Grab von Goldstein. Er hat einen Ehrenplatz in einem kleinen Park. Hierher pilgern ultra-nationale Siedlerfamilien, um ihrem »Helden« die Ehre zu erweisen.
Eine menschenleere Geisterstadt
Wir fahren weiter nach Hebron. Links und rechts von der Hauptstraße sind die Nebenstraßen mit dicken Betonblöcken oder Stacheldraht dicht gemacht, denn auf der Straße, auf der wir uns befinden, dürfen palästinensische Autos nicht fahren. Dann erreichen wir das Zentrum der Stadt. Auch hier stoßen wir überall auf Barrikaden. Die Straßen sind leer. Eine Geisterstadt, wie man sie aus Western-Filmen kennt. Alle Einkaufsläden, die Palästinenser gehörten, sind verriegelt. An vielen Türen steht mit weißer Sprühfarbe »Tötet Araber«, »Tod den Arabern« oder »Araber in die Gaskammer«.
77 Prozent aller Geschäfte wurden im Laufe der Jahre geschlossen und 42 Prozent der palästinensischen Häuser in Beschlag genommen. »Es gibt zwei Gründe, warum die Palästinenser ihre Häuser und Geschäfte verlassen haben. Der erste Grund ist die Gewalt der Siedler. Der zweite sind die Aktionen des Militärs«, erklärt Ilan Fathi, der 2001 ein Jahr lang in Hebron stationiert war. Fast alle Soldaten leisten hier einen Teil ihres Dienstes ab. Während 1997 hier noch 300 000 Palästinenser und 500 Siedler gelebt haben, ist die Zahl der Palästinenser 2009 auf 180 000 geschrumpft. Die Zahl der Siedler ist hingegen auf 800 gewachsen.
»Ich war selbst an Häuserräumungen beteiligt. Wir haben mitten in der Nacht an die Türen gehämmert und den Menschen eine Stunde Zeit gegeben, ihr Haus zu räumen. Wenn sie es nicht taten, haben wir Gewalt angewendet. Diese Häuser haben wir dann zu Militärbasen erklärt«, sagt Fathi. 400 der 1500 geschlossenen Geschäfte wurden ebenfalls vom Militär verriegelt. »Überhaupt haben wir versucht, den Palästinensern das Leben zur Hölle zu machen. Häuserdurchsuchungen in der Nacht. Palästinenser wurden zwei, drei Mal am Tag an Checkpoints kontrolliert. Wir haben laut rumgeballert, um Lärm zu machen.« Der junge Mann macht eine kleine Pause, um sich wieder zu sammeln, dann erfahren wir noch von den Ausgangssperren. »Alle drei bis vier Tage haben wir die Palästinenser nur für zwei Stunden aus ihren Häusern gelassen.« 2002 wurden an 182 Tagen Ausgangssperren verhängt. Das betraf nie die Siedler.
Die Siedler Hebrons sind extrem gewalttätig und schwer bewaffnet. Während unserer Führung kommen uns einige Jungs entgegen. Sie sind vielleicht 16, höchstens 18 Jahre alt. Sie tragen eine lockere Hose, Turnschuhe, ein normales T-Shirt, eine Kippa – die jüdische Kopfbedeckung – und ein Maschinengewehr über der Schulter. Ein Bild, das uns in ähnlicher Weise schon in Ost-Jerusalem begegnet ist. Rund 2500 Soldaten und private Sicherheitskräfte sind zum Schutz der 800 Siedler in Hebron stationiert. Das Fatale dabei: Dem Militär ist es streng untersagt, die Siedler anzufassen, geschweige denn sie zu verhaften. So kommt es regelmäßig zu Übergriffen auf Palästinenser, die nie geahndet werden. »Ganze Familien wurden in ihren Häusern überfallen und zusammengeschlagen. Wir sind nie eingeschritten.« Die ganze Stadt ist mit Überwachungskameras bestückt – zum Schutz der Siedler. Das heißt aber auch, dass alle Übergriffe dokumentiert sind. Doch die Aufnahmen werden vom Militär streng verschlossen gehalten.
Der Wendepunkt in Ilans Leben
Wir gehen ein Stück weiter zu einem Kreisverkehr. Ilans Stimme wird ernst. Wir setzen uns auf den Bürgersteig. Es ist immer noch keine Menschenseele zu sehen. »An dieser Stelle habe ich etwas erlebt, das ich bis heute nicht glauben kann. Es war während der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag 2001. Ein Soldat stand genau da vorne«, er zeigt auf eine kleine Bushaltestelle. »Ein 15-jähriger Palästinenser kam auf ihn zu, ein Stück Glas in der Hand. Der Soldat hat ihn daraufhin mehrmals in den Bauch geschossen. Unser Militärarzt und ich sind zu ihm geeilt und haben versucht, ihm das Leben zu retten. Da kam eine Gruppe Siedler. Sie haben uns von ihm weggezerrt und fingen an, auf ihn einzutreten. Sein Blut spritzte überall hin. Er war tot. Sie umkreisten die Blutlache des Jungen und fingen an, um sie herum zu tanzen und zu jubeln. Das werde ich nie vergessen.«
Die Siedler wurden nie vor Gericht gestellt. Der Wendepunkt in Ilans Leben, der ihn vom Soldaten zum Menschenrechtsverfechter machte. »Ich habe angefangen mich zu fragen, warum die Regierung diese ultra-nationalen Siedler unterstützt. Ich wollte nicht mehr schweigen.« Einigen seiner Kollegen ging es ähnlich. Nach ihrem Dienst haben sie dann »Breaking the Silence« gegründet.
Die ehemaligen Soldaten leben keinesfalls ungefährlich. Neben den körperlichen Attacken sind es vor allem die Reaktionen der Freunde und Verwandten, die tiefe Wunden hinterlassen. »Als ich wieder nach Hause ging, wurde ich wie ein Held gefeiert. Doch jetzt sind wir Verräter.« Etliche Freunde hat Ilan bereits verloren. Mit seinen Nichten und Neffen darf er sich nicht alleine in einem Raum aufhalten. Mit seinen Eltern hat er die Abmachung getroffen, nie mehr über Politik zu sprechen. Wenn der große, schlanke Mann mit seiner sanften Stimme erzählt, fällt es schwer, ihn sich als bewaffneten Soldaten vorzustellen.
Nach einigen Stunden sind wir froh, diesen Ort wieder zu verlassen. Während der Fahrt reden wir kaum. Dann fragen wir Ilan, wie er mit seinen Erlebnissen zurecht kommt. Nach einem Seufzer sagt er: »Ich bin mitverantwortlich für das, was dort passiert. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, die Leute aufzuklären.«