Die Abgründe einer Gesellschaft beginnen nicht bei Amokläufern
Von Yavuz Özoguz am 12. März 2009 12:04:43:
Unter den unfassbaren Nachrichten des gestrigen Tages wurde nur nebenbei erwähnt, dass die Zahl von Amokläufern in Deutschland, bezogen auf die Bevölkerung, nach den USA die Zweithöchste ist. Darüber sollte jeder einmal tiefgehender nachdenken!
Fassungslos saßen gestern Millionen von Deutschen vor den Sondersendungen zum Amoklauf in eiern Schule an einem Ort, dessen Namen bisher kaum jemand kannte. Und auch im Ausland hat die Nachricht für Entsetzen gesorgt. Zunächst einmal gilt die Anteilnahme den Hinterbliebenen der Opfer und die Genesungswünsche gelten den Überlebenden und teils schwer verletzten, insbesondere den Polizeibeamten, die in Ausübung ihres Dienstes so schwer verletzt wurden. Folgerichtig haben Bundespräsident und Bundeskanzlerin sofort mit entsprechenden Reden reagiert und sämtliche Sender haben mit Sondersendungen das grauenvolle Ereignis aufzuarbeiten versucht.
Lauter Psychologen sprachen über Ursachen im Fernsehen, im Umfeld des Amokläufers, in seiner Persönlichkeit usw.. Aber eine nur nebenbei erwähnte Statistik wurde kaum aufgearbeitet: Die Zahl von Amokläufern in Deutschland ist bezogen auf die Bevölkerung nach den USA die Zweithöchste! Wer angesichts solch einer Statistik nur den grausamen Einzelfall betrachtet und dabei die umfassenden Zusammenhänge, welche die Ähnlichkeit zwischen den USA und dem heutigen Deutschland verdeutlichen, missachtet, kann sich nicht erfolgreich dafür einsetzen, solche Amokläufe zu vermindern.
Um die Problematik einmal viel deutlicher aufzuzeigen, ist ein Vergleich mit Ländern angebracht, in denen es nie Amokläufe an Schulen gibt. Nehmen Sie z.B. die Türkei, Griechenland oder Iran. Zweifelsohne wird z.B. in der Türkei viel mehr Gewaltsoftware mit brutalsten Killerspielen unter Jugendlichen konsumiert, als es in Deutschland der Fall ist. In Griechenland haben wir erst jüngst den Ausbruch von Gewalt in lang anhaltender Form auf den Straßen als Protest gegen vielerlei Missstände erlebt und der Iran liegt in einem Gebiet, in dem überall in Nachbarländern tagtäglich Bomben explodieren und die Bevölkerung Gewalt nicht nur im Fernsehen miterlebt, sondern manche noch traumatisiert sind von einem Jahrzehnt an Krieg gegen das Land. Alle drei Länder sind ärmer als Deutschland und zweifelsohne ist heute noch Deutschlands Schulsystem in sehr vielen Belangen den Schulsystemen der genannten Länder überlegen. Gewaltverherrlichende Filme laufen z.B. in der Türkei viel öfter im Fernsehen als in Deutschland und Hollywood hat die türkische Filmindustrie viel deutlicher im Griff als die deutsche. Und die Zahl an "gewöhnlichen" Morden im Land dürfte in allen genannten Ländern kaum niedriger als in Deutschland sein. Dennoch gibt es dort diese Art von Amoklauf nicht. Warum?
Alle genannten Gründe, die tagaus tagein von so vielen Experten in lauter Sondersendungen diskutiert werden, mögen Teilaspekte einer Katastrophe sein, aber sie sind nicht die eigentliche Ursache. Auch der Nachahmungseffekt spielt sicherlich eine Rolle angesichts der bereits zuvor erfolgten Massaker an Schulen, aber auch das kann nicht erklären, warum in Deutschland unschuldige Passanten wahllos erschossen werden oder in den USA es sogar den Spezialbegriff "Sniper" für Menschen gibt, die aus "Spaß" wahllos auf andere Menschen schießen.
Die Ursachen für die "Explosion" jener Amokläufer mag auch in deren Persönlichkeit, in den spezifischen Umständen usw. liegen, aber man darf Amokläufe nicht getrennt von der Gesellschaft, getrennt von der Entwicklung einer Gesellschaft betrachten. Der Amoklauf stellt die Spitze des Eisberges dar, der im Zusammentreffen zu vieler ungünstiger Umstände "explodiert", aber die Ursachen, die eigentlichen Eisberge unter Wasser, liegen sehr tief in der Gesellschaft verwurzelt, und hier muss man ansetzen.
Eines der grundsätzlichsten Probleme, welche die Gesellschaft in Deutschland heute hat, ist ihr mehr oder weniger totaler Werteverlust. Im Namen einer angeblich jüdisch-christlichen Identität mit dem neuen Feindbild Islam wurden nunmehr acht Jahre lang die grundlegendsten Werte aller zivilisierten Gesellschaften von der Elite des Landes mit Füßen getreten und die absolute Mehrheit des Landes hat geschwiegen.
Man betrachte einmal den universellen Wert "du sollst nicht töten". Wenn sogar die Menschenwürde unantastbar sein soll, dann muss es für das Leben des Menschen noch deutlicher gelten. Aber dieser Wert ist wertlos geworden, nicht nur in Computerspielen, sondern in der tagtäglichen Realität der Politik! Und dabei lassen wir heute die unglaubliche Abtreibungsrate einmal außen vor. Deutschland hat miterlebt, wie die USA in den Irak eingefallen ist und hat kaum ein kritisches Wort zu den Massenmorden gesagt. Deutschland hat miterlebt, wie in Guantanamo und Abu Ghraib Menschen auf grausamste Art und Weise unter Folter ermordet wurden, aber nie hat ein führender deutscher Politiker die Bestrafung der Mörder verlangt. Deutschland hat miterlebt, wie in Afghanistan Tausende von Zivilisten ermordet wurden (Stichwort Hochzeitsgesellschaft) und unterstützt mit Waffengewalt und sogar eigenen Soldaten diejenigen, die für jene Massaker verantwortlich sind. Deutschland hat miterlebt, wie über 1000 Zivilisten im Libanon im Bombenhagel der israelischen Luftwaffe ermordet wurden und die Politik hat Verständnis dafür geäußert. Deutschland hat miterlebt, wie im größten Freiluftgefängnis dieser Welt, im Gaza-Streifen, ein für unsere Zeit unvergleichbares Massaker stattgefunden hat und deutsche Politiker (übrigens aller Parteien inkl. mancher von der LINKEN) haben sich auf die Seiten derjenigen gestellt, die Besatzer sind und über 1000 Zivilisten, darunter mehrere Hundert Kinder vor den Augen der Weltöffentlichkeit ermordet haben. Und in diesem Verhalten gibt es in der ganzen Welt kein anderes Land, das sich in den letzten vier Jahren so sehr an die USA angebiedert hat, wie es Deutschland tat.
Es bedarf keiner Computer-Killer-Spiele, um die Gewaltschwelle herabzusetzen. Bei einem Spiel kann man immer noch bei hinreichend Verstand sich vorstellen, dass es eben "nur" ein Spiel ist und eben nicht die Realität. Bei den genannten Massenmorden aber handelt es sich um reale Verbrechen, die über die Nachrichtensenden verbreitet wurden und bei denen die deutsche Politik nicht nur geschwiegen hat, sondern sehr oft den Eindruck erweckte, Verbrechen zu tolerieren oder sogar zu unterstützen. Wie groß war denn der Aufschrei im Land, als Israel eine ganze Schule der UN oder ein christliches Krankenhaus bombardiert hat und dort so viele Kinder bzw. Kranke starben? Sind palästinensische Schulkinder, die wochenlang von Kampfbombern ermordet werden, weniger wert als deutsche Schüler, die es - Gott sei Dank - nur selten trifft? Glaubt ernsthaft jemand, dass solch eine Schweigsamkeit ohne Folgen für die Gesellschaft bleiben kann? Glaubt ernsthaft jemand, dass man kollektiv als Volk, als Bürger eines gemeinsamen Landes, größte Verbrechen in der Welt "mittragen" kann, nur weil sie von Verbündeten ausgeführt werden, ohne dass es negative Auswirkungen auf das eigene Land und die eigenen Bevölkerung hat?
Ein weiteres Problem der Gesellschaft besteht darin, dass die Ellenbogenmentalität keinerlei Barmherzigkeit, keinerlei christliche Nächstenliebe mehr kennt. Zwietracht - vom kleinen Nachbarschaftsstreit bis hin zur Politik - ist ein Verkaufsschlager und dafür kann man nicht nur Journalisten verantwortlich machen, wiewohl sie eine maßgebliche Verantwortung dafür tragen. Interviews werden nicht "mit" jemandem geführt sondern "gegen" jemanden. Gute Nachrichten werden kaum gebracht. Die Krankenschwester, die im Hospiz hunderten Menschen beim Sterben die Hand gehalten hat und dabei an die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeiten geraten ist, ist keine Schlagzeile wert. Aber die berühmt gemachte Schauspielerin, die ihre Bluse geöffnet hat, Drogen konsumiert, uneheliche Kinder hat, deren Sorgerecht ihr aberkannt wurde und dabei im Vollsuff Texte singt, die zerstörerisch sind, werden zu Ikonen der Jugend hochstilisiert.
Die Finanzkrise hat einen weiteren fundamentalen Wert aller zivilisierten Gesellschaften der Welt auf den Kopf gestellt: "Du sollst nicht stehlen". Wir wissen inzwischen, dass das ganze kapitalistische System im Prinzip auf Diebstahl beruht. Und in der Krise jenes Systems wird der Diebstahl an noch nicht einmal geborenen Generationen verschärft. Jeder weiß eigentlich, dass es eine Form des Diebstahls ist, eine globale Form, dessen Ausmaße alle "gewöhnliche" Diebstähle um Potenzen übersteigt. Aber wir nennen es nicht so. Es heißt Neuverschuldung und damit versuchen wir uns selbst zu betrügen.
Der Werteverlust geht einher mit der Kinderarmut im doppelten Sinn. Einerseits gehören Kinder zu den Opfern der zunehmenden Armut einer nur noch materielle Werte anbetenden Gesellschaft und andererseits gibt es immer weniger Kinder. Wie sollte es aber auch anders sein, in einer Gesellschaft, in der Kindergeschrei zur Ruhestörung zählt und die Abschiebung in Altersheime der Normalzustand ist. Familiendramen über Familiendramen überschwemmen die Zeitungen, die davon leben, dass sie möglichst viel Gewalt, Zwietracht, Perversion und Schamlosigkeit präsentieren. In solch einer realen Gesellschaft wird jeder Amokläufer groß. Da spielt es kaum noch eine Rolle, wie die virtuelle Realität ist, in die er flieht.
Jetzt kann sich jeder selbst die Frage stellen, welche der oben genannten Aspekte insbesondere für die USA und neuerdings auch Deutschland zutreffen und warum "ärmere" Länder davon (noch) nicht betroffen sind. Auch kann sich jeder die frage stellen, ob sich Deutschland an der Seite der USA dem Raubtierkapitalismuswahn in den letzten Jahren beschleunigt angenähert hat oder nicht.
Zusammenfassend lässt sich die Debatte auf folgende Formel bringen: In den USA und seit einigen Jahren in Deutschland gilt Freiheit als oberster Götze, dem zu huldigen und alles andere zu opfern ist. Der Wert "Gerechtigkeit" ist hingegen aus den Lexika von Politikern und ihren Hofjournalisten gestrichen worden und die Bevölkerung erhebt seine Stimme nicht deutlich genug dagegen.
Ohne Gerechtigkeit gibt es aber keinen Frieden, weder in Deutschland noch an einem anderen Ort der Erde!
Wer seinen Beitrag gegen Amokläufer in diesem Land leisten will, muss sich für einen Frieden in Gerechtigkeit engagieren. Er muss sich dafür engagieren, dass deutsche Soldaten niemals mit US-Besatzungssoldaten gemeinsame Sache machen. Er muss sich dafür engagieren, dass die im wahrsten Sinn des Wortes mörderische Kapitalismusmentalität überwunden wird. Er muss sich dafür einsetzen, dass Menschen auf Basis von Vernunft zu urteilen lernen und nicht auf Basis einer aufgezwungenen "Meinungsfreiheit". Er muss Frieden mit seinen Kindern und Eltern schließen. Er muss sich bestmöglich mit seinem Nachbarn vertragen. Er muss die Liebe zwischen Ehepartnern fördern. Er muss sich für alle Kinder einsetzen, die selbst noch keine Stimme im Land haben. Er muss seine Stimme gegen Ungerechtigkeit in der Welt erheben, selbst wenn es ihm viel Ärger einbringt. Er muss die Wahrheit aussprechen, darf nicht über seine Verhältnisse leben und muss erkennen, dass Menschlichkeit absolut nichts mit Kapital zu tun hat! Und wenn er das alles und noch viel mehr macht, dann kann er dazu beitragen, dass es in seinem Land weniger Amokläufe gibt.
Den Wahnsinn von einzelnen Wahnsinnigen kann man nie ganz verhindern. Aber man muss verhindern, dass der Wahnsinn von jenen, die die Welt beherrschen, zur Normalität wird.