Sind Türken dümmer? – Eine Anregung zur innerislamischen Diskussion
In den letzten Tagen veröffentlichte Statistiken sind erschreckend. Fast jeder dritte türkischstämmige in Deutschland hat keinen Schulabschluss. Und es wird Zeit, dass wir Muslime auch dieses Problem kritischer als zuvor behandeln!
Rassisten der ultrarechten Szene haben es schon immer gewusst. Türken sind dümmer und gehören daher in ihre Heimat “transferiert“. Dabei meinen jene Rassisten nicht etwa allein türkische Staatsbürger sondern auch jeden Deutsche, der erst seit drei Generationen Deutscher ist und sein Urgroßvater Türke war. Linke hingegen weisen zu Recht darauf hin, dass die Statistik der Bildungslosigkeit unter Türken eher mit ihrem sozialen Status in Verbindung steht und sozial vergleichbare “deutschstämmige“ Gruppen einen noch mieseren Bildungsstand hätten. Türkische Verbände weisen schlicht darauf hin, dass die Statistik nicht stimmen würde. So sehr der Rassenwahn der Rechten von uns Muslimen in aller Entschiedenheit zurück gewiesen werden muss, so wenig nützen uns die Erklärungen der Linken, denn es bleibt der Sachverhalt, dass Türken (und damit zum größten Teil Muslime) zu den bildungsfernen Schichten der Republik gehören, auch wenn das manche Türken lieber verdrängen. Und das Argument mit der Bildungslosigkeit der Eltern kann nach der dritten Generation auch einmal hinterfragt werden!
Was aber sind die Gründe hierfür? Es würde den Rahmen eines kurzen Artikels sprengen, sämtliche Gründe detailliert zu analysieren, daher beschränkt sich dieser Diskussionsansatz auf die Aspekte, die direkt oder indirekt mit dem Islam zu tun haben. Der Leser soll sich aus dem Artikel auch keine Antworten versprechen, sondern es sollen Fragen aufgeworfen werden für eine innerislamische Diskussion.
Der Islam selbst – darin sind sich alle Muslim einig – kann nicht Schuld an der Misere sein, ist es doch die Religion, die als erste Offenbarung den Begriff “Lies“ hervorgebracht hat und in der Wissen und Wissenschaft den höchsten Wert einnehmen. Die Tinte eines Gelehrten wird mit dem Blut eines Märtyrers verglichen. Aber was ist mit den Muslimen? Was ist mit den Muslimen in Deutschland? Sicher können wir wieder Ausflüchte suchen in dem Sinn, dass wir sagen, es gibt nicht “die“ Muslime. Dennoch sind wir eine Glaubensgemeinschaft mit Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern, für die wir eine gewisse Mitverantwortung tragen. Wie ist es mit der Bildung unter uns Muslimen?
Als ein Indikator für die Bildungsproblematik in Deutschland gilt das Maß an Bild-Zeitungs-Lesern. Wie sieht es aber bei Türken aus? Welche Zeitungen lesen sie? Und wie ist es mit dem Lesen von Büchern? Wie viele Bücher lesen Muslime in Deutschland, und wer animiert sie dazu, Bücher zu lesen und darüber nachzudenken? Juden und Christen haben ihre Privatschulen, die zu höchsten akademischen Graden führen. Wie viele Privatschulen können und wollen Muslime finanzieren? Entspricht unsere Realität in Bezug auf Religion der Wertschätzung, die der Islam der Bildung gibt? Lesen hat mit Sprache zu tun:
Wie viele Sprachen sprechen Muslime? Beherrschen sie wenigstens eine Sprache hinreichend? Welche Sprache wird in den Moscheen gesprochen, in den Moscheen in Deutschland und Österreich!? Entspricht es der Sunna (dem Vorbild) des Propheten in den Moscheen eine andere Sprache zu sprechen, als die der Mehrheitsgesellschaft? Und wie viele Jugendliche erreichen wir noch, wenn wir in der “alten“ Sprache verharren? Wie viele unserer Gelehrten in Deutschland sind überhaupt in der Lage, Deutsch zu sprechen? Und was kennen sie von Deutschland, von den Problemen der deutschen Jugend? Entspricht es der Sunna (dem Vorbild) des Propheten, Moscheevorsteher haben, die getrennt von der Gesellschaft leben? Wie oft diskutieren sie mit Jugendlichen, was ein weiterer Fragenkomplex wäre?
Wie sieht es mit der Diskussionskultur unter Muslimen aus? Wie viel wird in einer Moschee diskutiert? Selbst der Prophet hat seine Gefährten dazu animiert, miteinander zu diskutieren? Wie viele Moscheevorsteher sind so frei zu diskutieren und auch eine gegenteilige Auffassung und Interpretation zuzulassen? Wie sieht es mit der Toleranz gegenüber eine abweichenden Meinung aus? Und wie ist die Diskussionskultur in der Familie? Wie sieht es aus mit dem oft zu beobachtenden Patriarchat; war das die Vorstellung des Islam? Haben wir Familienväter, die in ihrer hohen Verantwortung für die Familie alle Familienmitglieder zur selbstständigen Verantwortung und auch zum freien Geist miterziehen? Dieser gesamte Komplex in ihrer derzeitigen Realität gehört auf den Prüfstand und muss möglicherweise auf den Kopf gestellt werden!
Und wie viele Bücher lesen Muslimas, wenn sie gleichzeitig fünf Kinder groß ziehen müssen? In wie weit sind Muslime aufgeklärt und kennen Empfängnisverhütungsmethoden? Überhaupt, wie sieht es aus mit dem Thema Sexualität und der Kenntnis darüber? Waren einstmals Muslime nicht die weltweit “Aufgeklärtesten“, wenn man die Überlieferungen studiert? Wer geht heute noch auf die Fragen, Ängste, Vorstellungen und Fehlvorstellungen der muslimischen Jugend diesbezüglich ein? Und wer ermöglicht verheirateten Paaren ein erfülltes Sexualleben durch hinreichende Information, die über das “technische“ hinausgehen und auch Probleme lösen helfen? Und welche Möglichkeiten eröffnen wir der Jugend, den geeigneten Lebenspartner zu finden?
Bildung hat auch mit Freizeitgestaltung zu tun? Wie sieht die Freizeitgestaltung von Muslimen aus. Bringt sie Geist und Körper näher zu Gott? Wie ist es in den Fußballvereinen? Glänzen muslimische Vereine dadurch, dass sie die Fairnesslisten ihrer Verbände anführen? Und welche anderen Freizeitgestaltungen bieten wir an, die für die Jugend anziehend sind? Wie ist es mit Musik? Wie viel islamische Lieder gibt es in einer Sprache, die die Jugend versteht und ihnen islamische Werte vermittelt? Wie ist es mit Spielen? Welche lehrreiche spiele spielen Eltern mit ihren Kindern? Oder überhaupt; welche gemeinsamen Aktivitäten führen sie durch?
Zur Bildung gehört auch, dass wir vernünftige Erkenntnisse zumindest in uns durchsetzen und versuchen sie zu lernen. Wie sieht es aus mit Rauchen unter Muslimen? Ist der Anteil an Rauchern geringer als in der Gesamtbevölkerung? Und wie sieht es aus mit Einhaltung der Gesetze – die man ja zumindest vorher kennen muss, um sie einhalten zu können? Und wie sieht es z.B. aus mit Halal-Speise, da uns der Islam vorschreibt nur das zu speisen, dessen Inhalt wir kennen und uns erlaubt ist, also ein bewusstes Leben im Lebensmittelbereich? Wie hoch ist der Konsum an Coca-Cola, einem Getränk, das damit wirbt, die Herstellungsgeheimnisse nicht bekannt zu geben? In wie weit wird jenes Getränk auch in Moscheen konsumiert?
Bildung ist besser möglich in einer großen zusammenhaltenden Gemeinschaft. In wie weit kooperieren benachbarte Moscheen miteinander? Wie oft gestalten sie gemeinsame Veranstaltungen? Wie oft setzen sie sich gemeinsam für irgendetwas ein, selbst wenn sie die gleiche Sprache sprechen?
Bildung bedeutet Anstrengung (Dschihad). In wie weit sind wir alle zu solchen Anstrengungen bereit, mehr als der Rest der Gesellschaft, dass wir Tag und Nacht uns in unterschiedlichen Bereichen anstrengen und Freude an der Anstrengung haben?
Geben wir es doch zu, der Mief des Unrats von 1400 Jahren Umayyaden, Abbasiden, Osmanen, Safawiden und vieler anderer Dynastien hängt so sehr an unseren Schuhen, dass wir vergessen haben, die Schuhe zu wechseln, um uns davon zu befreien. Wir Muslime sind es, die den Islam vergewaltigt haben, nicht unsere Gegner. Die haben diese Situation nur für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt!
Das islamische Ideal ist ein Muslim oder Muslima, der oder die sich (ein Leben lang) in höchster Bildungsanstrengung zu dem liebevollsten Menschen seiner Gesellschaft entwickelt und unabhängig von jeglichen Anfeindungen zum Nutzen der Menschheit dienlich ist. Und in diesem Dienst an der Menschheit erkennt er den wundervollen Gottesdienst, der ihn mit größter Freude erfüllt. Er erwartet nichts von den Menschen sondern freut sich auf Gottes Gnade. Er ist dankbar für jedes nützliche Wissen, dass ihm geschenkt wird und will es vermehren dadurch, dass er es weiter gibt. Die Menschen, die ihn oder sie persönlich kennen, schätzen ihn oder sie und wollen auf ihre Nähe nicht verzichten. Sein Einsatz für die Familie, für die Nachbarschaft, für die Gesellschaft wird selbst von seinen Gegnern respektiert, den sie erkennen, dass auch sie davon auf dem Weg zur Wahrheit profitieren können. Eine weiter gehende Beschreibung dieses Ideals würde ebenfalls den Rahmen eines solchen Artikels sprengen und füllt Bücher.
Ja, es gibt sie, es gibt solche Menschen in allen Religionen und allen Gesellschaftsschichten; selbst wenn sie unter den Superreichen seltener sind! Es gibt sie auch unter Muslimen in Deutschland und Österreich: Brüder und Schwestern, die dieses Ideal zumindest anstreben und sich bemühen, sich anstrengen und daran Freude haben. Aber jene Glaubensgeschwister werden diesen Artikel sicherlich nicht übel nehmen, da auch sie sehr genau die wenigen genannten und vielen nicht genannten Defizite kennen.
Der Artikel strebt an, einige Diskussionen diesbezüglich anzuregen, damit wir gemeinsam aus dem Schlamassel herauskommen Inschaallah. Dabei müssen wir uns – neben dem dringenden Bedarf nach der eigenen Weiterentwicklung und Läuterung – auch die Frage stellen, wie wir jene überhaupt oder besser erreichen können, die eben nicht lesen, nicht Moscheen besuchen, nicht diskutieren, nicht lernen, nicht arbeiten, sich nicht anstrengen und letztendlich in jeder Gesellschaft Unheil anrichten können; und sei es durch die Belastung, die sie für die Gesellschaft bedeuten.
Um die Anfangsfrage zu beantworten: Türken in Deutschland und Österreich sind sicherlich nicht dümmer als der Rest der Gesellschaft, aber sie sind mit Sicherheit weiter entfernt von den eigenen idealen als die Mehrheitsgesellschaft!