Keine Kritik, sondern eine Empfehlung für die, die sich ein Bild machen wollen über den Alltag in Ramallah bzw. Gaza in den letzten Jahren und ein Einblick in die Politik sowohl Israels als auch der Autonomiebehörde:
Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land (Drinking the Sea at Gaza: Days and Nights in a Land Under Siege) Beck, München 2003, ISBN 3-406-50203-2
Bericht aus Ramallah. Eine israelische Journalistin im Palästinensergebiet. Beck, München 2004, ISBN 3-7205-2483-3
Amira Hass, 1956 als Kind osteuropäischer Shoah-Überlebender in Jerusalem geboren, lebte seit 1993 in Gaza, seit 1997 in Ramallah, und berichtet von dort aus für die israelische Zeitung Haaretz. Ihre Artikel erscheinen in deutsch z. B. bei z-mag.de.
Zitat "Wut, Wut über das, was ich tagtäglich sehe und erlebe", treibt sie an und noch etwas anderes. "Die Erinnerungen meiner Eltern, die meine Erinnerungen geworden sind. Als ich klein war, haben mir meine Eltern, beide Überlebende des Holocaust, eine Geschichte erzählt, die mich geprägt hat. - Nach zehn Tagen Transport von Jugoslawien nach Bergen-Belsen, in den Viehwagen der Bahn, kamen wir dort an, hatte mir meine Mutter erzählt. Erschöpft, einige unfähig zu gehen, wurden wir aussortiert, ins Lager gebracht. Um uns herum standen deutsche Frauen und schauten teilnahmslos zu. - Dieser teilnahmslose zuschauende Blick", sagte Amira, "hat sich bei mir eingebrannt und mir war klar, dass ich nie nur Zuschauer sein wollte". - "Amira ist unerbittlich und hat vor niemanden Angst", sagt Sharon Grinker, der Ex-Armeesprecher für Gaza. Sie macht ihren Job ohne Angst. Sie ist niemandem verpflichtet. Sie versucht, wo immer es geht Augenzeuge zu sein und die Fakten zusammenzutragen. Darüber hinaus ist sie noch am atmosphärischen und an den Gefühlen der Menschen interessiert, das macht ihre Berichte so interessant."
Was für ein Glück, dass meine Eltern tot sind! Damals, 1982, konnten sie das Geräusch der israelischen Kampfflugzeuge nicht ausstehen, die über die palästinensischen Flüchtlingscamps im Libanon flogen. Das Kreischen eines Flugzeugs erschreckte sie in ihrem Haus in Tel Aviv. "Wir müssen nicht sehen, was passiert, um zu wissen, was passiert", sagten sie.
So war das damals. Und was jetzt, wenn sie von mir erfahren hätten von der zwei Jahre alten Sham, die behände auf den Tisch klettert, um ihrer Schwester beim Malen im Notizbuch zuzusehen; von dem fünf Jahre alten Tayyib mit der Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, die sich zeigt, wenn er lächelt; von der sechs Jahre alten Carmel mit dem Bilderbuch, das sie liebt? Die Welt explodiert rund um diese Kinder, wieder und wieder, nur fünf oder zehn Meter entfernt von ihnen. Seit zehn Tagen schon ist jede Minute eine Minute der Angst. Jede Minute der Angst ist eine Minute des Todes. Multiplizier das mit anderthalb Millionen - der Zahl der Bewohner des Gazastreifens! ANZEIGE
Meine Eltern vernachlässigten alle ihre alltäglichen Verrichtungen, wenn sie vor ihrem geistigen Auge den Schrecken in den Augen von Kindern sahen; die Verzweiflung von Müttern, die ihre Kinder nicht beschützen konnten; den Moment, wenn eine riesige Explosion ein Haus über dessen Bewohnern zusammenstürzen ließ und eine intelligente Bombe ganze Familien auslöschte. Salmehs Mutter sagt: "Wenn ich aufwache, bin ich überrascht. Ich weiß, dass ich nur aus Zufall lebe."
Wie hätten meine Eltern jetzt ihren Alltag ertragen sollen, wenn sie von mir die Geschichte der 70 Jahre alten Umm Khaled zu hören bekommen hätten. Eine Bombe fiel auf den Schutzraum aus Beton auf dem Platz im Shabura Flüchtlingscamp. Ein Asbest-Dach fiel Zentimeter von Umm Khaleds Kopf entfernt zu Boden. Erst da konnte sie überzeugt werden, in das Haus ihrer Tochter gebracht zu werden, einen halben Kilometer entfernt - in der Illusion, dass ein neues Haus sicherer sei. "Alles, was ich hoffe, ist, dass ich sterbe, bevor ich erleben muss, dass euch etwas passiert", sagt sie immer wieder zu ihren Kindern.
Schon bevor die Sprach-Weichspülmaschine zu seiner gegenwärtigen Verfeinerung gelangte, waren meine Eltern angewidert von Phrasen wie "Krieg für Frieden in Galiläa" oder "Störungen der öffentlichen Ordnung", wobei die öffentliche Ordnung die Besetzung der palästinensischen Siedlungsgebiete war und deren Störung der Widerstand dagegen.
Was für ein Glück, dass sie Verteidigungsminister Ehud Barak und Außenministerin Zipi Livni nicht mehr hören, die erklären, wir hätten nichts gegen das palästinensische Volk, und den Kabinettssekretär, der sagt, es gebe keine humanitäre Krise, das sei nur Hamas-Propaganda. Um Lügen zu erkennen, hätten meine Eltern nicht die Namen von Leuten zu hören brauchen, die seit fünf oder mehr Tagen kein fließendes Wasser mehr haben. Vergesst die Bombardements, vergesst die Elektrizität, Essen, sogar Schlaf! Aber kein Wasser?
Aus ihrer eigenen Geschichte wussten meine Eltern, was es bedeutete, Menschen hinter Stacheldrahtzäunen auf engem Raum einzusperren. Ein Jahr, fünf Jahre, zehn Jahre. Seit 1991. Was für ein Glück, dass sie nicht mehr erleben, wie diese eingesperrten Menschen mit all der ruhmreichen Militärtechnik aus Israel und den USA bombardiert werden!
Ihre eigene Geschichte brachte meine Eltern dazu, die lässige Art und Weise zu verachten, mit der Nachrichtensprecher über eine Ausgangssperre berichten. Was für ein Glück, dass sie nicht hier sind und die Massen im Kolosseum brüllen hören.
Amira Hass ist Korrespondentin und Kolumnistin der liberalen israelischen Tages-Zeitung Haaretz. Sie lebt und arbeitet seit 1993 in Gaza, seit 1997 in Ramallah im Westjordanland. Die 52-Jährige ist die Tochter rumänischer Holocaust-Überlebender.