Muslim-Markt, 7.5.2008 - Vielen Bundesbürgern fällt es schwer zu verstehen, warum die so langjährigen, geschichtlich gewachsenen, guten Beziehungen zur islamischen Welt heute derart massiv leiden und zunehmend mehr Menschen auch Deutschland verachten. Aber ist es wirklich so unverständlich?
Einer der vielen Bausteine für weltweite Missverständnisse und darauf aufbauende Konflikte besteht in der Unfähigkeit so vieler Menschen, die Welt auch einmal mit den Augen des Gegenübers zu betrachten. Der christliche Grundsatz "liebe deinen Nächsten, wie dich selbst" wird gerade beim Verständnis von Konfliktpotentialen am deutlichsten von jenen missachtet, die sich immer wieder auf christliche Werte berufen. Dabei ist es gar nicht so schwer, sich in die Gedankenwelt des Gegenübers hineinzuversetzen. Man braucht sich nur die Frage stellen, wie man selbst in jener Lage denken und reagieren würde.
Stellen Sie sich also einmal vor, Sie sind ein halbwegs gebildeter Bürger des Irak. Ihnen war die ganze Zeit bewusst, dass der Diktator Saddam durch die USA eingesetzt und gegen das Volk unterstützt war. Jetzt sind 150.000 Soldaten jener USA in Ihrem Land. Seither haben Sie keinen regelmäßigen Strom, kein fließendes Wasser, keine Sicherheit im Land. Ihre Tochter kann nicht mehr auf die Straße, ohne Gefahr zu laufen, von US-Soldaten vergewaltigt zu werden. Sie kennen viele Familien, denen so etwas zugestoßen ist. Sie haben auch von den Gräueltaten in Guantanamo gehört und kennen betroffene Familien. Von Abu Ghraib wussten Sie, bevor in der westlichen Welt darüber berichtet wurde. Sie können es zwar nicht öffentlich zugeben, aber in Wirklichkeit sympathisieren Sie mit jedem Widerstandskämpfer im Land und freuen sich über jeden Erfolg gegen die Besatzungsmacht, in deren Anwesenheit nicht nur Ihre Kinder nicht mehr vernünftig zur Schule können, sondern die Besatzer täglich auch damit drohen, Ihr Nachbarland ebenfalls überfallen zu wollen. Und mit all diesem Wissen und mit all dieser Erfahrung sehen Sie ab und zu im Fernsehen, wie herzlich die Bundeskanzlerin mit demjenigen umgeht, der für all dieses Unrecht der Hauptverantwortliche ist. Sie sehen eine lächelnde Bundeskanzlerin, die sich von Bush liebevoll küssen und den Rücken massieren lässt. Sie sehen, dass die deutsche Bundeskanzlerin und ihr Kabinett so ziemlich jedes Verbrechen der USA im Irak verschweigt oder teilweise sogar rechtfertigt. Gleichzeitig hören Sie, dass genau jene Bundeskanzlerin auch gegen die Muslime im eigenen Land vorgeht und z.B. kopftuchtragenden Lehrerinnen Berufsverbote erteilt, wobei das für Sie völlig unverständlich ist. Denn im Irak tragen sogar manche Christinnen aus Überzeugung Kopftuch.
Wie würden Sie über Deutschland denken?
Oder stellen Sie sich vor, Sie sind ein Bürger des Gaza-Streifens oder des zerstückelten Westjordanlandes. Sie sind ein Palästinenser, der Zeit seines Lebens unter zionistischer Besatzung gelebt hat. Sie haben am Tag ca. 10 Liter Wasser zur Verfügung, während die illegalen Siedler in der Nachbarschaft 150 Liter haben. Sie haben kein Strom, wenig Nahrungsmittel, keinen Job, kein Einkommen und keine Chance, Ihre Kinder in irgendeine Bildungsstätte zu schicken. Viele Ihrer Verwandten sind in den letzten Jahren im Kugelhagel der Besatzer getötet worden - Sie empfinden das als kaltblütigen Mord der Besatzungsmacht - und Sie kennen viele Eltern, die auch ihre Kinder gewaltsam verloren haben, wenn Sie nicht selbst betroffen sind. Sie sympathisieren mit dem Widerstand gegen die Besatzung, wie es fast jeder aufrichtige Mensch in jedem Land der Erde gegen Besatzer tun würde. Und dann sehen Sie im Fernsehen, wie die Bundeskanzlerin nach Israel reist. Sie hält eine große Rede nach der anderen, an einer großen Stätte nach der anderen. Dort spricht sie von der Sicherheit Israels, von den Errungenschaften Israels, von der Größe Israels, von der Menschlichkeit Israels und dass Deutschland immer an der Seite Israels stehen würde, völlig unabhängig davon, was Israel macht. Sie hören kein einziges Wort über Besatzung, über die 6000 getöteten Palästinenser allein in diesem noch jungen Jahrhundert. Sie hören aber, dass die Bundeskanzlerin den Widerstand gegen die Besatzung in schärfster Form verurteilt, zu den Gewalttaten Israels und der gewaltsamen Besatzung aber schweigt. Die deutsche Bundeskanzlerin will Ihnen verbieten, Widerstand gegen Besatzer zu leisten, und das sagt sie in einer Offenheit, in der es noch kein Kanzler vor ihr gesagt hat.
Wie würden Sie über Deutschland denken?
Oder stellen Sie sich vor, Sie sind ein einfacher Bauer in Afghanistan, der sich darüber wundert, dass unter der US-Besatzung immer mehr Opium-Felder in der Nachbarschaft entstehen. Ihnen wird zwar gesagt, dass deutsche Soldaten nicht so brutal sind wie US-Soldaten, aber das verbessert Ihre Lebenslage nicht wirklich. Ihre Kinder können nicht zur Schule, Ihre Felder werden bedroht von vielerlei Seiten. Zwar wollen Sie kein Opium anbauen, weil Sie ein anständiger Kerl sind, aber mit Weizen oder Ähnlichem haben Sie keine Überlebenschance, da die kostenlosen Weizenlieferungen aus den USA die Preise im Land zerstören. Sie kennen so viele Familien, die Tote zu beklagen haben, seien es Tote durch Minen oder durch "Querschläger". Kaum eine Großfamilie existiert im Land, die nicht mindestens eine Frau versorgt, welche traumatisiert von der Vergewaltigung durch einen US-Soldaten lieber sterben als leben möchte. Und jede Großfamilie ist direkt oder indirekt durch Guantanamo betroffen, wobei manche gar nicht wissen, wo ihr vermisster Sohn ist und Guantanamo sogar zu einer Art "Hoffnung" wird; der Sohn könnte ja dort sein. Eigentlich haben Sie nichts gegen deutsche Soldaten, weil Sie von denen noch nichts Böses erfahren haben, aber dann sehen Sie im Fernsehen, wie die Bundeskanzlerin die allergrößte Liebenswürdigkeit zu jener Person zeigt, die für die Besatzung des Landes - wie Sie es empfinden - verantwortlich ist. Sie hören, dass immer mehr deutsche Soldaten nach Afghanistan kommen sollen und ein deutscher Verteidigungsminister gesagt haben soll, dass er Deutschland am Hindukusch verteidigt, wobei Sie nie auf die Idee gekommen wären, dass irgendein Afghane Deutschland angreifen könnte. Sie erfahren auch, dass Deutsche in den Flugzeugen sitzen, welche maßgeblich für die Lenkung von Raketen mit verantwortlich sind.
Wie würden Sie über Deutschland denken?
Oder stellen Sie sich vor, Sie sind ein Otto-Normal-Iraner. Zwar sind Sie nicht der aktivste Unterstützer der Revolution, aber Ihr eigenes Land lieben Sie und jegliche Einmischung von Fremden würden Sie sich verbitten! Sie wissen, dass Ihr Land den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat und daher berechtigt ist, den Atomkreislauf für friedliche Zwecke zu schließen. Sie bekommen mit, dass die USA alles tun will, um Ihrem Land Schaden zuzufügen. Aber das überrascht Sie nicht weiter, denn das tun die schon seit 29 Jahren! Dann aber bekommen Sie mit, dass es ausgerechnet Deutschland ist, der Ihnen in den letzten Jahren den größten Ärger zu bereiten versucht. Eine Sanktionsdrohung nach der anderen kommt aus Deutschland, damit Sie keine eigenen Uranbrennstäbe produzieren, von einem Land, dass selbst Brennstäbe produziert und engster Verbündeter von den USA ist, die bereits Atomwaffen gegen Menschen eingesetzt haben. Ein Land will Ihnen verbieten, Uranbrennstäbe unabhängig von anderen Ländern zu produzieren, dass gleichzeitig die engsten Verbindungen zu Israel unterhält, das weder den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat, noch bereit ist, auf Atomwaffen zu verzichten. Sie sehen, wie die Bundeskanzlerin die Besatzung Palästinas faktisch unterstützt und gleichzeitig Ihnen die friedliche Nutzung von Atomenergie verbieten will, ohne die Sie von anderen abhängig sind. Und sie spielt sich bei Sanktionsdrohungen sogar noch mehr auf als die USA.
Wie würden Sie über Deutschland denken?
Jetzt wird der eine oder andere laut protestieren und sagen: Die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett ist doch nicht Deutschland! Wie wahr! Das ist die differenzierte Betrachtung! Aber wie kann der arme Bauer in Afghanistan solch eine Betrachtung durchführen, wenn sie selbst vielen vergleichsweise reichen Deutschen schwer fällt? Wenn in Deutschland die Bild-Zeitung am meisten gelesen wird, wie kann man dann vom afghanischen Bauern eine differenzierte Betrachtung einfordern?
Und ist es wirklich so abwegig, dem Volk in Deutschland eine gewisse Mitschuld an dieser Art von Politik zuzuschreiben, denn schließlich rühmen sich viele Deutsche doch, eine Demokratie zu haben? Haben sie denn nicht jene heutige Regierung gewählt?
Deutschlands Ansehen in der Welt ist seit Beginn der Legislaturperiode dieser aktuellen Regierung enorm gesunken, und viele Völker übertragen den Hass gegen die USA auch zunehmend auf deren Verbündete. Nun kann man den Standpunkt vertreten, dass man lieber mit den Mächtigen zusammen sein will und nicht mit den Armen der Welt. Aber will man wirklich auf der Seite der Unterdrücker stehen? Ist das wirklich das Ansinnen der Bevölkerung?
Sie würden in der beschriebenen Lange genau so über Deutschland denken, wie es der Großteil der betroffenen Bevölkerungen tut. Und daher ist es unser aller Pflicht, diesem Hass ein Ende zu setzen, indem wir als Bürger Deutschlands deutlich genug sagen, dass wir eben nicht zu den Unterdrückern gehören wollen, dass wir eben nicht auf der Seite des Oberbefehlshabers von Guantanamo oder den Besatzern von Palästina stehen, sondern ein friedliches Miteinander aller Menschen anstreben.
Wir müssen es sagen, immer wieder sagen und schreiben, immer wieder veröffentlichen, denn sonst machen wir uns mitschuldig! Und wir müssen bei Wahlen jene abwählen, die Unterdrücker unterstützten, seien sie im Inland oder im Ausland. Denn sonst machen wir uns ebenfalls mitschuldig.
Wenn aber hinreichend viele Menschen aussprechen würden, dass die Bevölkerung in Deutschland nicht an der Seite von Unterdrückern stehen möchte, dann könnte die Regierung das auch nicht so offen praktizieren. Es liegt also durchaus an uns.
Doch wenn wir es laut genug aussprechen, dann wird auch der Bürger im Irak, der Bauer in Afghanistan, der Palästinenser davon hören und erfahren, dass es ein Deutschland jenseits der aktuellen Regierung gibt, und das könnte helfen, zumindest einen kleinen Tropfen zum friedlichen Miteinander zu bereiten, selbst wenn zum wahren Frieden Ozeane solcher Initiativen benötigt werden.