Raubtierkapitalismus, Karawanenkapitalismus oder Verfassungsfeindlichkeit?
Von Muslim-Markt am 21. Januar 2008
Muslim-Markt, 21.1.2008 – Wenn es darum geht die Auswüchse des Kapitalismus für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen, wird die Sprachphantasie von Politikern beflügelt. Aber ist nicht der Kapitalismus selbst unmenschlich und zudem verfassungsfeindlich?
Während diese Zeilen geschrieben werden, erleidet der Deutsche Aktienindex gerade ein Rekordminus an einem Tag. Innerhalb von wenigen Stunden werden auf dem Papier notierte Werte milliardenfach “vernichtet“. Dabei war eigentlich die Werkschließung von Nokia das überragende wirtschaftspolitische Thema der Woche im Wahlkampf zweier Bundesländer, die am kommenden Wochenende wählen. Was war passiert? Ein Unternehmen, dass satte Gewinne schrieb und noch dazu teilweise subventioniert wurde, kündigte an, ein inzwischen profitables Werk in Deutschland zu schließen, um ein noch profitableres Werk in Rumänien oder anderen ehemaligen Ostblockländern aufzubauen. 2000 Arbeitsplätze sind direkt betroffen, tausende weitere in Zulieferbetrieben.
Politiker von Rechts und Links gebärden sich “entrüstet“, um der Stimmung im Volk stimmenfangmäßig zu antworten. Die gleichen Politiker, die jeglichem Boykott gegen Israelische Siedler verhindern würden, zeigen “Verständnis“ für Boykottmaßnahmen gegen ein finnisches Unternehmen, dass nur das macht, was jede andere kapitalistische Firma auch macht, bzw. im Rahmen des Kapitalismus auch machen muss: Kapitalistisch denken und handeln. Der bereits bekannte Begriff des Raubtierkapitalismus wird nun ergänzt durch den Karawanenkapitalismus, wobei wohl ausnahmsweise kein orientalischer Seitenhieb gegen den Islam im Spiel war.
Das genau sind die Auswirkungen von “freier“ Marktwirtschaft oder anders ausgedrückt: “Kapitalismus“. So lange es kein höheren Werte als die Wirtschaftlichkeit der Wirtschaft gibt, wird in einer globalisierten Welt die Wirtschaft die Werte bestimmen. Das Genau ist Kapitalismus! Und jene Politiker, die jetzt mit Begriffen wie Raubtierkapitalismus und Karawanenkapitalismus so tun, als wenn es besonders unmenschliche Varianten des Kapitalismus wären, die uns jetzt bedrohen, lenken davon ab, dass es der Kapitalismus selbst ist, der die Menschheit bedroht!
Bei all den Debatten um den Kapitalismus – und der enormen Macht des Kapitals in Deutschland – wird aber selten die Frage aufgeworfen, in wie weit der Kapitalismus eigentlich mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Daher lohnt ein Blick in das Buch, dessen Werte von jedem dahergelaufenen unerzogenen Jungen, der sich Muslim wähnt, bedroht sein sollen, nicht aber von Kapitalisten.
Der erste Artikel, der sich mit der Wirtschaft beschäftigt ist Artikel 9 in dem es unter (3) heißt:
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“
Genau jenes Recht aber wird ganz offensichtlich von den Bundesbürgern nicht im hinreichenden Maß genutzt, um der Bedrohung durch den Kapitalismus entgegen zu treten.
Entgegen mancher Vermutung oder manchem Vorurteil kommt weder das Wort „Kapitalismus“ im deutschen Grundgesetz vor, noch ist das die Rede von „Freier „Marktwirtschaft“. Das Grundgesetz enthält keinen Abschnitt, der explizit „das Wirtschaftsleben“ regelt, so dass sehr unterschiedliche Wirtschaftformen und -modelle unter dem Grundgesetz denkbar wären, wenn die anderen Artikel erfüllt sind.
In Artikel 20 (1) heißt es: “Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Während jedem Bürger klar ist, dass jemand, der die demokratische Ordnung Deutschlands bekämpft ein Verfassungsfeind ist, wird die zweite Hälfte des oberen Satzes schlichtweg ignoriert. Denn auch derjenige (oder der Konzern), der die soziale Ordnung bekämpft bzw. sich dagegen richtet, ist dementsprechend ein Verfassungsfeind.
Wenn ein Unternehmen Gewinne durch die Produktion an einem bestimmten Standort schreibt und nur deshalb seinen Standort schließt, weil er anderenorts mehr Gewinne schreiben könnte, wird es schwer dem Bürger zu vermitteln, dass dieses “sozial“ sein soll. Dass aber dieses Verhalten zudem verfassungsfeindlich ist, wird dem Bürger gar nicht erst erläutert, denn sonst könnte er auf die Idee kommen, dass eine ganze Klasse von Politikern, die das Land regieren, sehr wenig vom eigenen Grundgesetz halten (siehe dazu auch das Verbot von Angriffskriegen usw.)
Am deutlichsten wird der Sachverhalt aber im Artikel 14 des Grundgesetzes. Darin heißt es unter (2): “Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Tatsache ist, dass Unternehmen, die in Deutschland produzieren, so ziemlich zu gar nichts mehr verpflichtet sind, was die Sicherung von Arbeitsplätzen angeht! Dass der “Gebrauch“ von Eigentum dem Wohle der Allgemeinheit diesen soll, dürfte bestenfalls ein müdes Lächeln an den Börsen bewirken. Denn würde man jenen Artikel auch nur halbwegs ernst nehmen wären z.B. Hedge-Fonds in Deutschland genau so verboten, wie privatisierte Energieunternehmen und Wasserversorger, deren einziges Ziel die Gewinnsteigerung ist, nie aber die Ressourcenschonung!
Würde man sich ernsthaft mit dem eigenen Grundgesetz einmal auseinandersetzen, würde man feststellen, dass die Väter des Grundgesetzes sich wirklich bemüht haben „in der Verantwortung von Gott und den Menschen“, wie es in der Präambel steht, etwas zu gestalten. Das Problem besteht aber darin, dass wir inzwischen ein Wirtschaftssystem haben, das selbst in zahlreichen Bereichen in erheblichem Maß verfassungsfeindlich agiert. Allerdings ist die Elite der herrschenden Herrschaften zumeist gar nicht gewillt, ernsthaft darauf einzugehen, denn – wie ein jüngstes Beispiel im Hessener Wahlkampf zeigte – sie arbeiten oft selbst für jene Wirtschaft und sind recht gut bezahlt! Manche würden das auch “gekauft“ nennen.
Muslime in Deutschland sind dazu verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass ein auf dem Zinssystem basierender Kapitalismus in seiner Freiheit, die er in Deutschland heute genießt, unmenschlich und verfassungsfeindlich ist. Dass Muslime genau für diese Aussage selbst als “verfassungsfeindlich“ eingestuft werden, sollte sie nicht weiter stören, denn sie sollten wirklich “in der Verantwortung von Gott und den Menschen“ agieren. In wie weit jüdische und christliche Gemeinden zu der Unmenschlichkeit namens Kapitalismus, die inzwischen den Frieden der gesamten Erde bedroht, schweigen, müssen sie selbst vor Gott und den Menschen verantworten.
Inzwischen sind auch Muslime zunehmend zahlreicher wahlberechtigt. Und bei allen unterschiedlichen Ansichten unter Muslimen zu den verschiedenen Parteien und den Wahlen an sich; in einem sollten Muslime sich einig sein: Die deutlichsten Vertreter des Kapitalismus sind für sie nicht wählbar!