das das in erster Linie, aber nicht nur, die Jugend betrifft, stell ich das mal hier rein :
Warum die Toten Hosen nicht ins Paradies wollen
Muslim-Markt, 9.6.2008 – Wenn die Faszination für Gottesehrfurcht in der Gesellschaft fehlt, dann sind nicht nur diejenigen Schuld daran, die nicht daran glauben, sondern auch die Gläubigen.
Kaum ein praktizierender Muslim wird die deutsche Rock-Band “Tote Hosen“ kennen. Nur zur Erläuterung: Rockbands sind jene Bühnendarsteller, deren Bewegungen an schwerste geistige Störungen und epileptische Anfälle erinnern, wenn man den Ton abstellt und dennoch zusieht. Und die “Toten Hosen“ gehören zu den bekanntesten deutschen Rockbands. Aber jene Rockband bringt Hunderttausende begeisterte Jugendliche zusammen. Sie singen alle gemeinsam die Lieder, den Jugendlichen laufen Schauer über Schauer den Rücken herunter, bei manchen Liedern können die Glücksgefühle nicht zurückgehalten werden und Tränen über Tränen werden vergossen, und das Erlebnis ist so eindringlich, so “berauschend“ im wahrsten Sinn des Wortes (oft sogar ganz ohne Alkohol!), dass die Jugendlichen diese Begeisterung in ihren Alltag hinein tragen und noch wochenlang davon zehren.
Mag sein, dass obige Schilderung manchem Muslim, der so etwas noch nie miterlebt hat, etwas übertrieben oder ungewöhnlich erscheint, aber in Wirklichkeit ist die Schilderung eher untertrieben, wenn man jene Jungendlichen kennt und ihr Lebensgefühl zumindest versucht zu verstehen. Dabei handelt es sich nicht etwas um Hunderttausende von unanständigen Menschen. Viele dieser Jugendlichen haben echte Ideale. Viele wollen mit ihrer ersten Liebe ein Leben lang zusammen bleiben, auch wenn sie nicht die Spielregeln für solch eine Liebe kennen und es dadurch nicht klappt. Viele von diesen Jugendlichen wollen Frieden auf Erden und würden sich möglicherweise auch dafür engagieren, wenn sie nur wüssten wie. Es sind die Kinder einer Gesellschaft, die noch vor dem Leben stehen und nach Faszination suchen, oder Ältere, die sich eine Art Jungendgefühl bewahren wollen. Gruppen wie die “Toten Hosen“ geben ihnen diese Faszination, u.a. gestern Abend in einem Konzert mit über 100.000 Besuchern in Nürnberg und mindestens einer Million vor dem Bildschirm. Obwohl die Konzerte sehr teuer sind, sind sie im Nu ausverkauft.
Was aber ist der Grund dafür, dass solch eine Faszination von solchen Gruppen ausgeht? Was fängt diese Jugend so ein? Und warum schaffen das Christentum und Islam nicht einmal zusammen, solch eine Begeisterung in der jeweils eigenen Jugend auszulösen? Und wie beeinflussen solche Gruppen die Jugend?
Dabei singen jene Gruppen durchaus auch über Religion. In ihrem Lied “Die Zehn Gebote“ heißt es dann nach Aufzählung jener Gebote:
„Wenn ich du wär lieber Gott, und wenn du ich wärst, lieber Gott glaubst du ich wäre auch so streng mit dir wenn ich du wär lieber Gott und wenn du ich wärst, lieber Gott würdest du die Gebote befolgen, nur wegen mir“
Ist das nicht eine berechtigte Frage? Ist Gott wirklich der so unbarmherzige Herrscher, der mir all meine Fehler nicht verzeihen wird? Was ist das für eine Religion, die jeden Satz mit Barmherzigkeit beginnt, und dann aber die Gleiche im Alltag vermissen lässt? In einem anderen Lied mit dem Titel “Paradies“ heißt es dann:
„Wer kann schon sagen, was mit uns geschieht, vielleicht stimmt es ja doch, dass das Leben eine Prüfung ist, in der wir uns bewähren sollen. Nur wer sie mit Eins besteht, darf in den Himmel kommen. Für den ganzen dreckigen Rest bleibt die Hölle … Um diesem Schicksal zu entfliehen, sollen wir uns redlich bemühen, jeden Tag mit 'nem Gebet beginnen …“
Um dann in den Refrain zu münden:
„Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist. Ich stelle keinen Antrag auf Asyl, meinetwegen bleib ich hier.“
Tausende und Abertausende singen aus heiseren Kehlen mit und die Schauer laufen den Rücken hinunter! Der Sänger ist ein Star, ein Vorbild, eine Art Priester in einer multimedialen Kathedrale mit begeisterten und faszinierten “Gläubigen“, von denen die Kirchen und viele Moscheen nur träumen können! Ja hat er denn nicht Recht? Beten wir wirklich morgen für morgen, weil Gott es braucht? Warum fällt es uns so schwer, die Faszination des Gebets zu verstehen? Stellen wir uns wenigstens diese Frage, um nach einer Antwort zu suchen?
Und er singt weiter, alle singen mit:
„Wer Messer und Gabel richtig halten kann und beim Essen grade sitzt, wer immer JA und DANKE sagt, dessen Chancen stehen nicht schlecht. Wer sich brav in jede Reihe stellt mit geputzten Schuhen, wer sein Schicksal mit Demut trägt, dem winkt die Erlösung zu. Wir sollen zuhören und aufpassen, tun, was man uns sagt, unterordnen und nachmachen vom ersten bis zum letzten Tag. Immer schön nach den Regeln spielen, wie sie befohlen sind, wie sie im Buch des Lebens stehn, in Ewigkeit Amen. Ich will nicht ins Paradies, …“
Wäre dort ein Publikum mit muslimischen „Migrationshintergrund“, dann hätte er auch noch singen können:
„Dort sollen angeblich Huris empfangen mich, gleich 70 oder mehr an der Zahl. Ich bin doch mit meiner einen Lieben so glücklich, was soll ich mit 70 zur Wahl?“
Ja, dieser Sänger fasziniert in einer Mischung aus Wahrheit und Falschheit. Wahr ist, dass eine Religion, die nur aus Geboten besteht, eine Religion, deren einziges Ziel die Genüsse im Paradies sind, keine wahrhaftige Religion sein kann! Regeln, die zu befolgen sind, weil es „befohlen“ wird, eine autoritäre Erziehung, die kein Stück nachdenkt, keine eigenen Gedankenentwickelt, „gleichgeschaltet“ wird, das ist, was die Jungendlichen in vielen Religionen sehen, und das lehnen sie ab. Und da kommt dann ein Sänger, der allein schon von seinem Bühnenaussehen nicht „gleichgeschaltet“ ist, und singt eigene Texte, die eine “Befreiung“ andeuten, eine Befreiung, die jeder Mensch anstrebt, nicht nur Jugendlich, sondern auch Erwachsene, wenn sie es noch nicht vergessen haben. Falsch ist sein komplettes Verständnis der Wahrheit; aber ist es nicht teilweise bei uns so?
Was also machen wir so falsch als Muslime, dass wir nicht einen Bruchteil der Faszination bewirken können wie Tote Hosen, obwohl wir doch fest davon überzeugt sind, dass wir viel Faszinierenderes anzubieten haben?
Einst wurde Imam Zain-ul-Abidin, der Urenkel des Propheten Muhammad gefragt, was ihm am Morgen so begegnet. Er antwortete:
Man fragte (Imam) Ali ibn al-Husain (a.): „Oh Sohn des Gottesgesandten, wie bist deinem Morgen begegnet?“ Er (a.) sprach: „Ich bin meinem Morgen mit acht Eigenschaften begegnet: Allah, der Erhabene, will von mir die (Erfüllung der) Pflichten, der Prophet (s.) die Sunna, die zu versorgenden (Kinder und Familie) die Versorgung, das “Ich“ [nafs] die (Erfüllung der) Begierden, der Teufel den Ungehorsam (gegenüber Allah), die beiden Engel-Wächter die Wahrhaftigkeit der Handlung, der Engel des Todes die Seele und das Grab den Körper. Alle diese Eigenschaften werden dann gegenüber mir eingefordert.“
Er stellt dar, dass er in einem Spannungsfeld von Bedürfnissen und einem zeitbegrenzten Umfeld steht. Und es war die “Sunna“ (die vorbildliche Verfahrensweise) des Propheten, der den Menschen die natürliche selbstbeherrschte Befriedigung der Bedürfnisse gewährte, ohne dass die Bedürfnisse anfangen, den Menschen zu beherrschen. Tun wir das heute? Gewähren wir uns selbst und unsere Jugend die Befriedigung der Bedürfnisse; z.B. das Bedürfnis nach Entfaltung?
Wie ist die Erziehung unserer Kinder unter Muslimen? Gewähren wir Ihnen die Freiheiten zur Selbstentfaltung? Gewähren wir Ihnen ein Privatleben, eigene Bedürfnisse, frühe Liebe, auch die Erfahrung durch eigene Fehler? Mit welchem Respekt behandeln wir sie? Haben wir als vorbildhafteste Gesellschaftsgruppe die absolut gewaltfreie Erziehung etabliert, so dass alle anderen Menschen darauf verweisen, wie liebevoll wir Muslime unsere Kinder erziehen? Und helfen wir überforderten Eltern, dass sie ihre Probleme lösen, damit kein Kind jemals mehr geschlagen wird?
Und wie ist es mit der Spracherziehung? Haben wir unsere Kinder motiviert und angeregt, möglichst viele Sprachen zu lerne, aber vor allem perfekt deutsch, die Sprache unseres Aufenthaltsortes zu beherrschen? Ist es nicht “Sunna“ des Propheten, die Landessprache als Beste zu beherrschen? Und wie ist es mit unseren Gelehrten und Imamen und Hodschas? Sprechen sie alle perfekt Deutsch? Wann hat jemals der Prophet einen Gelehrten in eine Stadt geschickt, ohne dass der Abgesandte die Ortssprache sprach oder zumindest so schnell wie möglich gelernt hat? In welcher Sunna des Propheten kommt es vor, dass seine Gelehrten die Landessprache nicht einmal lernen wollen? Und was sind das für “Geistliche“ die ihre althergebrachten Methoden aus Ländern, in denen sie schon nicht richtig funktioniert haben, eins zu eins hier übertragen wollen in einer fremden Sprache? Kann man damit die Jugend gewinnen? Kann man damit Faszination auslösen?
Und was ist das für ein Religionsverständnis, dessen Grundlagen in der Befolgung irgendwelcher Gebote liegen und nicht in der Liebe! Prophet Muhammad ist als “Barmherzigkeit für die Menschheit“ entsandt worden! Warum vergessen wir, das in den Vordergrund zu stellen? Warum steht nicht die Liebe im Vordergrund unseres Denken und Handelns, sondern irgendwelche Gebote? Warum verstehen wir nicht, dass die Befolgung der Gebote das Resultat der Liebe ist und nicht umgekehrt. Derjenige, der liebt, sucht einen Weg den Geliebten zu erfreuen und das Optimum dabei anzustreben. Die Gebote sind Hilfsmittel, Wegweise, Anleitungen, eine Art Gebrauchsanweisung, aber doch nicht der Weg selbst oder gar das Ziel!
Und was ist los in der Politik mit uns? Haben sie uns alle so butterweich gekocht, dass wir nicht einmal mehr zu den schlimmsten Verbrechen in der Welt den Mund aufbekommen; nicht einmal so viel wie die Toten Hosen?
Was ist los mit uns, wenn den Muslimas in der Türkei verboten wird mit Kopftuch zu studieren? Der zahlenmäßig größte türkische Verband in Deutschland schweigt eisern dazu, da er staatlich mit der Türkei verflochten ist und spendiert stattdessen einen Lehrstuhl für Islam in Deutschland? Kann man so freiheitlich denkende Jugendliche gewinnen? Und was ist los mit uns, da die Angriffe im Irak, in Palästina, in Guantanamo, in Afghanistan und so vielen anderen Orten immer schlimmer werden? Können wir nicht einmal mehr aufschreien? Wo ist der unüberhörbare Ruf nach Gerechtigkeit in deutscher Sprache? Oder sind unsere Tage der offenen Türen nur noch orientalische Volksfeste, die mit dem Islam des Propheten kaum etwas zu tun haben. Für Türken sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Prophet Muhammad kein Türke war und für Westler sei daran erinnert, dass Jesus ein Orientale war!
Und wo sind unsere Alternativen? Wo ist die Religion, die z.B. den Drogenmissbrauch überwindet durch Faszination? Wo gehen wir auf die echten Probleme der Jugend ein? Die Toten Hosen singen dazu:
„Ganz ohne Drogen geht es nicht, es wird auch immer so sein. Und Jesus sah das genauso, denn aus Wasser machte er Wein. Von Vatikan bis Taliban sieht man, dass es stimmt, dass die ganzen Abstinenzler noch immer die Schlimmsten sind!“
Welch eine faszinierend scheinende Aussage? Wo sind wir Muslime, die auf viel faszinierende Art und Weise darlegen, dass diese Mischung von Wahrheit und Falschheit nicht weiter hilft?
Prophet Muhammad hat durch sein Auftreten, durch seinen persönlichen Lebensstil, durch sein vorbildhaftes Verhalten, also durch seine Sunna, die Herzen der Menschen gewonnen! Er gewann die Herzen der Menschen durch Liebe, Liebe die er empfing und weitergab!
In einer Überlieferung sagt Imam Muhammad Baqir (ein Enkel des oben genannten Imams) sinngemäß: „Allah hat seine Nächsten unter seinen Geschöpfen versteckt, deshalb verachte niemanden, denn er könnte der Nächste zu Allah sein.“
Wie ist es mit uns? Haben wir gelernt den Nächsten zu lieben, selbst wenn der es nicht tut? Haben wir vergessen, wie liebevoll Prophet Muhammad (s.) selbst mit jenen verfuhr, die ihn hassten? Oder glauben wir inzwischen selbst die hasserfüllte Propaganda gegen den Islam, dass wir verlernt haben, den Hass durch Liebe zu überwinden?
Wenn wir in Deutschland als Muslime eine Stimme haben wollen, eine Stimme, die auch von Jungendlichen erhört wird, eine Stimme die faszinieren kann, dann müssen wir wahrhaftig werden! Wir müssen die Religion der Liebe vorleben! Und wir müssen die Religion des größten Verständnisses vorleben! Doch verstehen kann man uns in Deutschland vor allem nur dann, wenn wir deutsch sprechen!
Das gestrige Konzert der Toten Hosen ist vorbei. Die Jungendlichen sind wieder zu Hause. Und viele gehen ihrem täglichen Beruf nach, möglicherweise als Friseurin, als Busfahrer, als Arbeiter und Arbeiterin oder als Arbeitsloser. Die EM wird eine Weile von der Trostlosigkeit der Woche ablenken, aber die dauert nicht ewig. Und so fiebern sie dem nächsten Konzert der Toten Hosen nach.
Wir aber, wir Muslime, die wir die Faszination in unser Herz geschenkt erhalten haben sollten, müssen lernen, davon abzugeben, damit zu begeistern, damit Menschen einzuladen zur Liebe; ansonsten besteht die Gefahr, dass wir uns selbst betrügen und noch gar keine Liebe des Islam empfangen haben, die wir weitergeben könnten. Dann wird es höchste Zeit dringendst danach zu suchen.
Sagte Imam Ali (a.), Großvater der oben genannten Imame, nicht sinngemäß dass derjenige, der die Gebote Gottes einhält, weil er die Hölle fürchtet wie ein Sklave ist, und dass derjenige, der die Gebote Gottes einhält, weil er das Paradies wünscht, wie ein Händler ist? Nur derjenige, der aus Liebe die Gebote versucht einzuhalten, aus wahrer Liebe, der ist ein freier Mensch! Und nur freie Menschen sind wirklich in der Lage zur echter Innovation und Entwicklung, etwas was die Menschheit ausmacht!
Imam Chamene’is (ein Urenkel der oben genannten Imame) jüngster Aufruf, das laufende persische Jahr zum “Jahr der Innovation und Entwicklung“ zu erklären ist ein Aufruf an uns zur Freiheit und Liebe! Und hierein müssen wir selbst neue Ideen entwickeln, die Faszination leben zu können und vor allem unsere Jugend die Gelegenheit dazu geben, selbst es neue Wege sind oder gerade dann. Und dann werden wir gemeinsame Veranstaltungen haben voller Schauer über den Rücken, voller Tränen in den Augen, ganz ohne Hampelmänner auf der Bühne, aber mit viel größerer Faszination – Inschaallah, so Gott will!