Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten hat eine lange Geschichte – aber ein Ausgleich ist möglich.
Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten ist ein Kampf um die Seele des Islam, ein Krieg zwischen konkurrierenden Theologien und Auffassungen der heiligen Geschichte. Gleichzeitig zeigt sich in ihm die gelegentlich so archaische und gleichzeitig so erstaunlich lebendige Art von Stammeskriegen zwischen verschiedenen Volksgruppen und Identitäten, mit denen die Welt mittlerweile sattsam vertraut ist. In diesem Konflikt laufen Glaube und Identität zusammen, und aus diesen vereinten Kräften erklärt sich zum großen Teil die Frage, warum der Kampf trotz Zeiten der Koexistenz so lange dauert und noch immer solche Dringlichkeit und Bedeutung besitzt. Es handelt sich nicht nur um einen steinalten religiösen Disput, um ein Fossil von einem eingefahrenen Ablauf aus den Anfangsjahren der islamischen Entfaltung, sondern auch um einen Zusammenprall der Identitäten. Genährt wird er von theologischen und historischen Auseinandersetzungen, aber auch von aktuellen Fragen von Macht, Unterdrückung, Freiheit und Gleichberechtigung, ganz zu schweigen von regionalen Konflikten und ausländischen Intrigen. Dieser Konflikt ist sehr alt und sehr modern.
Während des Vierteljahrhunderts zwischen der Iranischen Revolution 1979 und dem 11. September 2001 haben die USA den Nahen Osten viel zu häufig durch die Augen der autoritären sunnitischen Eliten in Islamabad, Amman, Kairo und Riad betrachtet, Amerikas Hauptverbündete in der Region. Selbst in den wissenschaftlichen Werken des Westens über den Islam wurden die Schiiten nur am Rande behandelt. Während sich nun der Mittlere Osten verändert und die sunnitische Vorherrschaft weiter in Frage gestellt wird, muss sich auch der Blickwinkel ändern, unter dem die USA die Region betrachten. In seiner Reaktion auf europäische Einwände gegen den Irakkrieg machte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seine berühmte Unterscheidung zwischen dem „alten Europa“, das gegen den Krieg war, und dem „neuen Europa“, das ihm eher zustimmte. Der Krieg hat – wenn auch auf andere Weise – auch eine Linie zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Neuen Osten gezogen. Der alte Nahe Osten lebte unter der Herrschaft seiner arabischen Bevölkerung und betrachtete Kairo, Bagdad und Damaskus, diese uralten Regierungssitze der sunnitischen Kalifen, als seine „Stätten der Macht“. Die Probleme, die Ambitionen, die Identität und das Selbstbild der Region waren in erster Linie die der Araber. Die dominierenden politischen Werte des alten Mittleren Ostens sind eine Jahrzehnte alte Ausgabe des arabischen Nationalismus.
Dieser Nahe Osten, der sich nun auf unbehagliche Weise verabschiedet, war im Kern ein Ort von und für die sunnitische regierende Klasse. Der neue Nahe Osten, der schrittweise zum Leben erwacht und dessen Wehen von Autobomben, aber auch von friedlichen Protesten und Wahlen durchzogen sind, definiert sich gleichermaßen über die schiitische Identität, deren kulturelle Bindungen und Glaubensgemeinschaften, politische Allianzen und Handelsverbindungen die Kluft zwischen Arabern und Nicht-Arabern überbrücken.
So hat der Irak, mit Ägypten und Syrien eins der drei wichtigsten arabischen Länder und während des Höhepunkts des arabischen Nationalismus ein ernsthafter Bewerber um die Führung der arabischen Welt, einen Kurden zu seinem ersten Nachkriegspräsidenten gewählt und weit engere Verbindungen zum Iran gepflegt als zu seinen arabischen Nachbarn. Die schiitische und kurdische Mehrheit im Irak hat im ersten Versuch einer neuen Verfassung im Sommer 2005 sogar auf den üblichen Treueschwur gegenüber der arabischen Welt verzichtet und im Irak keine „Arabische Republik“, sondern eine „Bundesrepublik“ ausgerufen.
Die gewählten Vertreter der im Aufbau begriffenen irakischen Nachkriegsregierung sind die ersten schiitischen Führer, mit denen die USA seit der Iranischen Revolution direkten und bedeutsamen Kontakt haben. Als die Amerikaner von einer besseren Politik in der Region nach dem Irakkrieg redeten, sprachen sie in Wirklichkeit davon, den alten sunnitisch dominierten Nahen Osten zu verändern. Sie machten sich wenig Gedanken über den neuen Mittleren Osten, der sich jetzt entwickelt, und müssen dessen Potenzial noch erfassen. Dieser Nahe Osten wird nicht von der arabischen Identität oder von irgendeiner bestimmten Form der nationalen Regierung bestimmt werden. Letztendlich wird sich der Charakter der Region im Schmelztiegel der schiitischen Renaissance und der sunnitischen Reaktion darauf ausformen.
Heute ist der Nahe Osten anfälliger für Instabilität und Extremismus als zu irgendeinem Zeitpunkt, seit die Islamische Revolution im Iran einen Verbündeten der USA stürzte und dort radikale Schiiten an die Macht brachte. Der Ruf der Amerikaner nach Demokratie in der Region hat seine Freunde verunsichert und seine Feinde nicht befriedet. Der Irakkonflikt hat eine religiöse schiitische Koalition an die Macht gebracht und einen islamisch-nationalistischen Aufstand ausgelöst, der den Extremismus der Gotteskrieger stärkt.
So erregt der schiitisch-sunnitische Konflikt die Aufmerksamkeit der Welt, doch für Araber und Iraner, Afghanen und Pakistanis, die in der Region leben, ist er eine uralte Geißel, die von Zeit zu Zeit ihr Haupt erhebt, um Geschichte, Theologie, Recht und Politik des Islam zu formen. Der Konflikt spielt eine weit wichtigere Rolle in der Entwicklung der Region als viele meinen. Und er schlägt sich nieder in weit verbreiteten Vorurteilen. Stereotypen der proletarischen Schiiten und ihrer verdrehten Ansichten zum Islam bestimmen die Meinung vieler Sunniten über ihre Glaubensbrüder. Einem Aberglauben im Libanon zufolge haben die Schiiten Schwänze, sie haben zu viele Kinder, geben ihrer Religiosität zu laut Ausdruck und werden im Angesicht des lässig-eleganten Selbstbildes der Libanesen wegen ihrer proletenhaften, geschmacklosen und vulgären Art lächerlich gemacht. Trotz der politischen Popularität der Hisbollah werden Schiiten diskriminiert und als provinziell, ungehobelt und ungeeignet für ihre hochfliegenden Absichten, den Libanon zu repräsentieren, abgetan. In Saudi Arabien sagt man, dass Schiiten in ihr Essen spucken – eine Verleumdung, die selbst Kontakte beim Essen zwischen Sunniten und Schiiten verhindern soll – und dass man sich beschmutzt und sich reinigen muss, wenn man einem Schiiten die Hand gibt.
Während Krieg, Demokratie und Globalisierung den Mittleren Osten zwingen, sich einigen lange verweigerten Reformen zu öffnen, werden Konflikte wie die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten häufiger und intensiver werden. Bevor der Nahe Osten Demokratie und Wohlstand erreichen kann, wird er diese Konflikte beilegen müssen – solche zwischen ethnischen Gruppen wie Kurden, Türken, Arabern und Persern und, noch wichtiger, den größeren zwischen Schiiten und Sunniten. Wie viele Völker, die eine lange Zeit unbehaglich auf engem Raum zusammengelebt haben, teilen auch Schiiten und Sunniten Geschichten von gemeinsamen Kämpfen, harmonischen Gemeinden, Freundschaft und Heirat untereinander. Quer durch den Nahen Osten haben sich Schiiten und Sunniten oft für dieselbe politische Sache eingesetzt und sogar in denselben Schützengräben gekämpft, vor allem 1920 im Irak gegen die Briten und in den späten Achtzigern im Libanon gegen Israel. Tatsächlich hat in der heutigen Zeit nichts die beiden Seiten so zusammengeschweißt wie der Kampf gegen Israel.
Trotz der Ermahnungen schiitischer Führer zu Zurückhaltung hat die Wut wegen Selbstmordattentaten von sunnitischen Extremisten (von denen übrigens viele keine Iraker sind) im Irak zu Übergriffen schiitischer Bürgerwehren geführt, bei denen es unter anderem zu Kidnapping, Folter, Exekutionen und Ermordungen kam. Außerdem verändert das, was auf beiden Seiten auf ethnische Säuberungen hinausläuft, gewaltsam die Zusammensetzung der Bevölkerung. Auch Interessenpolitik hinterlässt ihre Spuren in einer Zeit intensiver und breiter denn je angelegter Debatten über die Zukunft der Demokratie in der Region. Darin geht es nicht nur um individuelle Rechte, die Reformierung unrepräsentativer Regierungen und die Macht im Irak, sondern auch um die relative Macht von Schiiten und Sunniten bei Bestimmung und Führung von Regierungen und bei der Kontrolle der staatlichen Ressourcen.
Frieden und Stabilität im Nahen Osten werden erst einziehen, wenn die Verteilung von Macht und Wohlstand der Gewichtung der Gemeinschaften entspricht und das politische System alle einschließt sowie friedliche Konfliktlösungen bereitstellt. Wenn sich die Konflikte, die bereits ausgelöst wurden, erschöpft haben, wird sich die Mehrheit der Schiiten und Sunniten auf eine politische Ordnung einigen, die sie teilen können, die weder theologisch noch politisch von einem oder dem anderen beherrscht wird und die den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wünschen aller entspricht.
Was haltet ihr von seinem Buch, hat es jemand schon gelesen ? Der Autor selbst ,ist iranische abstammung. Das Buch gibs leider nur in Englisch.